Stories_Berlinale 2006/Journal III

Zwischen Schock und Schlummer

Die 56. Berlinale ist vorbei, und als erstes muß sich die Autorin selbst beglückwünschen: Es ist ihr dieses Mal gelungen, nur bei dreien der fast 40 gesichteten Filme zwischendurch einzunicken.    21.02.2006

Vielleicht lag die neue Wachheit ja an verbesserten Aufputschtaktiken, aber mit Sicherheit auch an reinem Glück bei der Filmauswahl. Bei großen Filmfestspielen wie der Berlinale sieht jeder sein eigenes Festival, wie ein Kollege neulich so treffend bemerkte. Und im Repertoire fehlen nun zwar fast alle preisgekrönten Filme, inklusive dem Gewinner des Goldenen Bären Grbavica, durch den hartnäckigen Boykott deutscher Filme (mit der einzigen Ausnahme Knallhart) fiel natürlich auch der unvermeidliche Festival-Skandalfilm Der freie Wille unter den Tisch, aber sei´s drum. Dafür blieb eben auch die bleierne Ermüdung aus, die sich beim übermäßigen Genuß fader Filmkost einstellt.

Definitive Highlights der persönlichen Wettbewerbs-Auswahl waren dabei Michel Gondrys fantasievolle Tragikomödie The Science of Sleep (siehe Berlinale-Journal I) sowie Robert Altmans A Prairie Home Companion. Die hochkarätig besetzte Geschichte um die letzte Sendung einer Live-Radio-Show erwies sich als ebenso intelligenter wie warmherziger Abgesang auf ein verlorenes Stück Alltagskultur, der nebenher noch gespickt ist mit bösen kleinen Kommentaren zur amerikanischen Realität - insbesondere Texas kommt ganz schlecht weg ... Sympathisch, da weder übersentimental noch mit der moralischen Keule präsentiert, wirkte auch das australische Junkie-Drama Candy mit Heath Ledger. Sogar der Eröffnungsfilm war diesmal ansehbar: Snow Cake, ein Außenseiterdrama um eine Autistin, deren Tochter bei einem Autounfall stirbt, und den schuldbeladenen Fahrer des Wagens gleitet zwar öfter mal in kitschige Behindertenklischees ab, bietet aber immer wieder auch erfrischenden, lakonischen Humor.

 

Kitsch im Übermaß und ohne Humor, dafür aber garniert mit grottenschlechten Spezialeffekten, gab es dafür bei Chen Kaiges Fantasy-Epos Wuji (The Promise). Derart schlicht gestrickter Eskapismus vom Regisseur melancholisch-poetischer Dramen wie "Temptress Moon" und "Lebewohl meine Konkubine" - das überraschte schon. An Einschlafen war bei dieser Aneinanderreihung von Abstrusitäten allerdings auch nicht zu denken. Bessere Special Effects, aber ebenfalls jede Menge Kitsch gab es bei der Comic-Verfilmung V For Vendetta (Drehbuch: Andy und Larry Wachowski) zu sehen. Die SF-Geschichte ist an Georg Orwells "1984" angelehnt und spielt in einem totalitären Großbritannien. In Zeiten nach 9/11 ungewöhnlich für einen Mainstream-Film: Anerkannter Held der Geschichte ist ein Terrorist, der mit Freuden symbolträchtige Gebäude in die Luft sprengt. Moralisch leicht irritiert, wenn auch ansonsten gut unterhalten, verläßt da der Zuschauer den Saal – ebenso wie auch bei Find Me Guilty von Sydney Lumet ("Die zwölf Geschworenen"), einem von Hauptdarsteller Vin Diesel erstaunlicherweise mit Leichtigkeit getragenen Gerichtsdrama, bei dem die allgemeine Sympathie unversehens bei hochkarätigen Mafiamitgliedern liegt. Im Bewußtsein völliger politischer und moralischer Korrektheit konnte man sich dafür nach der Ansicht von Stephen Gaghans Syriana, Terrence Mallicks The New World sowie Michael Winterbottoms Semi-Doku The Road to Guantanamo über die Machenschaften der bösen Amis in der Vergangenheit und Gegenwart empören. Sehr unspektakulär, an der Grenze zur Unerheblichkeit, kam im Gegensatz Pen-ek Ratanaruangs Invisible Waves daher, ein Drama um einen Koch, der wider Willen zum Killer wird. Eher als der Film selbst bleibt da das ausfallende Verhalten von Kameramann Christopher Doyle ("2046") bei der Pressekonferenz in Erinnerung, der es offensichtlich liebt, Journalisten anzuschnauzen: "Stupid Question! Next Question!"

 

Die beeindruckendsten Filme waren allerdings nicht im Wettbewerb zu besichtigen, sondern in der Panorama-Sektion. Sowohl das humorvolle Transvestiten-Drama Breakfast on Pluto als auch der Aussie-Western The Proposition ließen echte Kino-Magie aufkommen (siehe Berlinale-Journal II). Konsequenterweise, so könnte man sagen, waren dann aber auch zwei richtig ärgerliche Beiträge in der Arthaus-Schiene der Berlinale vertreten: Der wirre Psychothriller Stay von Marc Foster, zuvor mit "Finding Neverland" und "Monster´s Ball" eher positiv aufgefallen, entpuppte sich als ein derart überkandideltes und wichtigtuerisches Stück Zelluloidverschwendung, daß es einem vor Staunen fast die Schuhe auszog. Nicht mal zum Schlafen kam die Autorin vor lauter Entsetzen. Dies kompensierte dann allerdings das Familiendrama Kaalpurush (Memories in the Mist) von Buddhadeb Dasgupta, laut Katalog bekannt als "Altmeister des indischen Autorkinos". Die verschiedenen Konflikte innerhalb der Familie präsentierten sich hier so zerdehnt und bemüht poetisch, dasß bei allem guten Willen ein friedlicher Schlummer nach der Hälfte des Films unvermeidbar wurde.

Interessanter waren da drei asiatische Panorama-Beiträge, die alle das Schicksal junger Außenseiter zum Thema hatten. Sabus Drama Shisso (Dead Run) ist sehr kunstvoll aufgebaut, hinterläßt dabei aber doch einen etwas unausgegorenen Eindruck (siehe Berlinale-Journal II). In sich geschlossener und runder wirkt dagegen Takashi Miikes 46 oku nen no koi (Big Bang Love, Juvenile A): Ein junger Häftling wird erwürgt, ein Mitgefangener gesteht die Tat, doch die anschließende Untersuchung bringt völlig andere Zusammenhänge zu Tage. Der Film ist dabei weniger inhaltlich, sondern vor allem formal interessant, die extreme Stilisierung des Gefängnisses erinnert an einigen Stellen schon fast an Lars von Triers letzte Werke. In eine Art Knast gerät in Kan shang qu hen mei (Little Red Flowers) auch der vierjährige Qiang: In seinem straff organisierten Kindergarten im Peking der 50er Jahre eckt der kleine Rebell permanent an. Die kleinen chinesischen Kinder sind sehr niedlich anzusehen, doch darüber hinaus ist Regisseur Zhang Yuan hier auch eine schöne Parabel zum Thema Individualismus versus Gruppenzwang gelungen.

 

Mit jungen Menschen auf der Suche nach Identität in einer entfremdenden Umgebung befaßten sich auch drei Filme der Sektion "Internationales Forum des Jungen Films". Die indische Call-Center-Doku John & Jane, das polnische Familiendrama Doskonale Popoludnie (The Perfect Afternoon) und die japanische Improvisation Bokura wa mo kaerenai (We Can’t Go Home Again) sind dabei sämtlich sehr unaufdringlich inszeniert, wirkten dafür aber umso authentischer. Im krassen Gegensatz dazu stehen die japanische Splatterorgie Kimyo na sakasu (Strange Circus) sowie die innovative Insomnia-Doku Wide Awake, in der Alan Berliner geradezu obsessiv seine eigenen Schlafprobleme unter die Lupe nimmt und zu diesem Zweck neben Aufnahmen von Arztsitzungen und Familiendiskussionen unter anderem Hunderte von alten Filmschnipseln zum Thema eingebaut hat.

Als besonderes Leckerli für Japan-Filmfreunde bot das Forum dann auch noch eine kleine Retrospektive zum Regisseur Nobuo Nakagawa (1905-1984), der im Westen bislang weitgehend unbekannt ist, im Laufe seiner Karriere jedoch sage und schreibe 97 Filme gedreht hat, unter anderem zahlreiche Fantasy- und Horrorfilme. Neun davon, aus dem Zeitraum 1949 bis 1969, waren hier nun zu sehen, so zum Beispiel der Horrorklassiker Jigoku (Hell). Und man muß es ihm lassen: Nakagawas albtraumhafte Vision der Hölle, in der letzten halben Stunde des Films detailreich ausgebreitet, wirkt auch heute noch äußerst drastisch mit den vielfältigen physischen und psychischen Qualen, denen die armen Sünder hier ausgeliefert sind.

Also insgesamt nochmal: Hut ab vor der diesjährigen Berlinale, die in allen Sektionen spannende Entdeckungen ermöglicht hat. Ach ja, und zum Entspannen gab es natürlich auch noch die Retrospektive-Sektion, mit dem Thema "Traumfrauen - Stars im Film der fünfziger Jahre". Und genau hier, bei der Sichtung altbekannter Hollwood-Melodramen, Komödien und Abenteuergeschichten, seien dies nun "Imitation of Life", "Gentlemen Prefer Blondes" oder "Mogambo" wußte man, bei allem DVD-Hype, mal wieder so richtig den Zauber der großen Leinwand zu schätzen.

Anne Herskind

Berlinale 2006


56. Internationale Filmfestspiele Berlin

 

Berlin, 9.-19. Februar 2006

 

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