Stories_Andrax

Endzeitgeister

Stellen Sie sich vor, Sie sind Zehnkämpfer, Olympiasieger, Frauenschwarm - und wollen sich einmal so richtig ausschlafen. Als Sie aufwachen, sind 2000 Jahre vergangen. Und die Zukunft ist definitiv nicht so strahlend, daß man Sonnenbrillen braucht. In der Neuauflage einer der begnadetsten Comic-Serien der 70er Jahre begegnen wir jeder Menge Monstern, Vampiren, Aliens und verführerischen Frauen ...
   18.08.2008

Wir schreiben das Jahr 3976.

 

Holernes: "Hast du Antworten auf deine Fragen?"

Andrax: "Nicht eine! Das Chaos schweigt."

 

Wir schreiben das Jahr 1976.

 

Der Zehnkämpfer Michael Rush tritt erfolgreich bei den Olympischen Spielen in Montreal an. Alles scheint in bester Ordnung für den blonden Recken mit der hippen Langhaarfrisur - bis er von einer wunderschönen Frau im Auftrag des wahnsinnigen Wissenschaftlers Professor Magor gekidnappt und in dessen unterirdisches (was sonst?) Labor gebracht wird.

Der Professor führt ein wahrlich grausiges Experiment durch: Er versetzt den Olympioniken Rush in einen 2000 Jahre währenden Tiefschlaf, um ihn danach unter dem Namen Andrax in einer vermeintlich perfekten Zivilisation aufwachen zu lassen. Als EVOLVER-geübter Leser darf man klarerweise davon ausgehen, daß nichts so ist, wie es sich der fortschrittsgläubige Magor in seinen Hardcore-68er-Phantasien vorgestellt hat. Statt auf Love, Peace und Wellness zu stoßen, findet sich Rush/Andrax in einer pittoresken Alptraumwelt wieder, in der ein (vorerst) unerklärliches Nebeneinander vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Epochen herrscht.

Nur mit dem Schwert, das er zufällig in einer Monsterhöhle findet, und dem Wissen aus seiner Zeit (1976 - die gute alte ...) kämpft sich unser Held durchs Chaos und stellt wieder einmal unter Beweis, daß körperliche Schlagkraft, gekoppelt mit einem gerüttelt Maß an Hausverstand, akademisch-professoraler Überheblichkeit jederzeit überlegen ist. Zu ihm gesellt sich - nach einer klärenden Prügelei - als Begleiter auf der Suche nach der Wahrheit, die wieder einmal da draußen ist, der kampflustige Barbarenkönig des Stammes der Kaunas, Holernes. Zwischen den beiden wächst eine Freundschaft heran, die durchaus mit der zwischen Old Shatterhand und Winnetou vergleichbar ist.

Eine Welt, bevölkert von urzeitlichen Echsen, raufenden Germanenstämmen, hinterlistigen Reptilienmenschen, notgeilen Alien-Königinnen, blutrünstigen Vampiren (unter der Führung eines gewissen Vlad Dracul), femmes fatales, deren Aussehen zwischen Ava Gardner, Crepaxs Valentina und Barbarella oszilliert, und allerlei Attraktionen mehr wartet darauf, von Andrax zu Land, zur See und in der Luft durchmessen zu werden.

 

3976

 

Die Odyssee der Weggefährten Andrax und Holernes kennt längst kein "Woher?" oder "Wohin?" mehr, Land, Wasser - Wasser, Land, und jetzt die Wüste unter ihren rastlosen Füßen ...

 

1973

 

In diesem Jahr erscheint das erste Abenteuer von Andrax in der Ausgabe 27 des Comic-Magazins "Primo" im Rolf-Kauka-Verlag. Die hünenhafte Gestalt des schwertumgürteten Endzeit-Protagonisten war eigentlich als Ersatz für eine geplante Figur namens Kronan (!) für "Primo" kreiert worden und wird nun auch in den Kauka-Reihen "Action Comic" und "Super Action" sowie kurzzeitig in den konkurrierenden Axel-Springer-Publikationen "Zack" und "Zack-Parade" veröffentlicht.

Andrax selbst ist eine Schöpfung von Zeichner Jordi Bernet (der später mit "Torpedo" einen weiteren bleibenden Beitrag zur Comic-Geschichte ablieferte), Autor Miguel Cussó (dem Onkel Bernets) und dem damaligen Kauka-Verlagsredakteur Peter Wiechmann, von dem auch die Grundidee stammt. Einige "Andrax"-Abenteuer scribbelt Kauka-Veteran Ludwig Fischer, der auch eigene Ideen in die Serie einbringt. Die Texte, wie sie dann tatsächlich in "Primo" und Co. zu lesen sind, stammen aus der Feder von Wiechmann und den Redakteuren Gaby Schuster und Peter Puls.

Wendet sich Kaukas berühmteste Comic-Eigenkreation "Fix & Foxi" vornehmlich an ein Kinder- und Frühjugendlichen-Publikum, so sind "Primo" und "Action Comic" (bzw. "Super Action") auf eine jugendlich-erwachsene Leserschaft ausgerichtet. Der Kauka-Verlag fährt ja prinzipiell zweigleisig, nicht nur in der Ansprache des Zielpublikums: Neben gelungenem Eigenbau wie den Figuren Fix und Foxi (oder dem in diesem Zusammenhang unbedingt zu erwähnenden Lupo) und besagtem Andrax bringt Kauka auch erstmals Highlights der europäischen Comic-Szene wie "Spirou" (bei Kauka "Pit und Piccolo"), "Die Schlümpfe" und "Asterix", aber auch Hal Fosters "Prinz Eisenherz" unters Volk.

Zum Teil ist dies allerdings mit recht eigenwilligen Übersetzungen garniert, die dem Kauka-Verlag zum Beispiel auch Probleme mit den Asterix-Machern Uderzo und Goscinny einbringen, die in Kaukas textlicher Bearbeitung "rechtsgerichtete Tendenzen" wittern. Wie auch immer - Kaukas Entdeckungen dieser Serien für den deutschsprachigen Markt sind ihm unbenommen und zeugen bis heute von einer Experimentierfreudigkeit, die ihresgleichen hierzulande stets vergebens suchte. Mit Andrax hat Kauka eine Figur geschaffen, die den (nach den Sechzigern desillusionierten) Zeitgeist der Siebziger mit all seinen Endzeitprojektionen (wie der "Planet der Affen"-Serie oder Carpenters "Die Klapperschlange") perfekt einfängt und zugleich bruchlos an traditionelle Muskelprotz-Fantasy à la Tarzan anschließt.

Danach, in den Achtzigern und Neunzigern, wird es ruhig um Kauka, "Fix & Foxi", "Primo" ... und "Andrax". Letzterer darf zwar auch in Spanien, Portugal, Norwegen, Frankreich, Italien und sogar in den USA kurzzeitig reüssieren - doch bleiben diese Ausflüge zumeist Stückwerk dessen, was die Andrax-Saga in ihrer Gesamtheit herzugeben vermocht hätte.

Andrax selbst zieht es vor, unterdessen unbesehen im Nebel einer unbestimmten Zukunft zu pausieren ...

 

3976

 

Verweilen! Nicht mehr im Halbschlaf nach dem Schwert tasten ... nicht bei jedem Geräusch sofort kampfbereit sein ... umsorgt werden, sich im heißen Bad strecken, wieder fühlen, wie Frauen sind. Der Irrweg durch das Labyrinth der Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft führt Andrax und Holernes zurück in das Reich der Kaunas.

 

2006

 

Im Dezember unterzeichnet Alexandra Kauka, CEO der Kauka Promedia (die u. a. auch die Rechte am Kauka-Archiv besitzt), einen Vertrag mit Deutschlands wohl umtriebigstem Comic-Verlag Cross Cult ("Torpedo", "Hellboy", "The Walking Dead" u. v. a.). Worum es darin geht, ist schnell erklärt: Kauka Promedia plant, zur Veröffentlichung seiner realistischen Comics wie "Andrax" den Namen "Primo" wiederaufleben zu lassen, indem diese Geschichten unter dem Label "Rolf Kaukas Primo-Comics" bei Cross Cult erscheinen sollen. Cross Cult war von Anfang an der Wunschpartner von Alexandra Kauka, was angesichts seines bisherigen Outputs ja mehr als verständlich ist.

 

3976

 

Holernes: "Wir ziehen weiter ... gleich im Morgengrauen!"

 

2007

 

Im Oktober erscheint tatsächlich der erste "Andrax"-Band "Experiment des Grauens" als Kauka-Cross-Cult-Kooperation. Das alte Schwarzweiß-Material wurde von Cross Cult liebevoll aufbereitet, neu gelettert und von Peter Wiechmann noch einmal eingehend redaktionell bearbeitet. In einer geplanten Abfolge von insgesamt fünf Ausgaben (alle im klassischen Cross-Cult-Format) gibt das Team die Geschichte von Andrax erstmals chronologisch wieder, inklusive der bisher nicht veröffentlichten beziehungsweise von Jordi Bernet später geschaffenen Episoden.

Band 2 "Im Labyrinth der Zeit" und Band 3 "Gegen Götter und Monster" erscheinen dann 2008 - die letzten zwei Bände sollen demnächst folgen.

 

2008

 

Andrax ist also wieder da, um sich den letzten Dingen zu widmen: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Und wo kommt dieser verdammte Flugsaurier her? Wo ist mein Schwert? Und wo ist der Freund und Begleiter, wenn man ihn braucht?

Fragen über Fragen - und vielleicht wird ihm sogar eine Antwort gewährt, irgendwann, in 2000 Jahren ... oder jetzt schon, beim Comic-Händler Ihres Vertrauens.

 

3976

 

In der Menschwerdung war das Überleben vorrangig. Freundschaft entwickelte sich sehr viel später und stand eigentlich nicht auf dem Fahrplan der Evolution. Wohl deshalb wurde das Hohe Lied der Freundschaft seit Alters her so rühmend besungen, weil sie durch alle Zeiten hindurch mehr ein verklärter Wunschtraum, eine Ausnahmeerscheinung als praktizierte Realität ist.

Andrax hingegen hat sie erfahren: diese unverbrüchliche, durch keine noch so widrigen Wechselfälle chaotischer Zeiten zu störende Vertrautheit. Holernes ist Andrax´ Freund in des Wortes tiefster Bedeutung, und das gilt genauso umgekehrt.

Andrax fühlt zum ersten Mal Einsamkeit, seit er in eine Zukunft katapultiert wurde ... die fast alle Zeiten in sich vereint.

Holernes ist auf dem Weg zu seinem Volk - die Freunde haben sich verabschiedet. Aber sie wissen mit unerschütterlicher Gewissheit: wir sehen uns wieder!

Thomas Fröhlich

Jordi Bernet & Peter Wiechmann - Andrax I: Experiment des Grauens

ØØØØØ

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Cross Cult (Asperg 2007)

Links:

Jordi Bernet & Peter Wiechmann - Andrax II: Im Labyrinth der Zeit

ØØØØ 1/2

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Cross Cult (Asperg 2008)

Links:

Jordi Bernet & Peter Wiechmann - Andrax III: Gegen Götter und Monster

ØØØ 1/2

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Cross Cult (Asperg 2008)

Links:

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