"Sie kam von den Bergen der Götter herab, um das Universum des Indie-Pop zu retten" schrieb der "NME" vor langer Zeit angesichts eines Auftritts der Sugarcubes. Vielleicht hätte alles beim alten bleiben sollen. Ähnliches könnte man jedenfalls beim Anhören des neuen Björk-Albums "Vespertine" denken.
Das erste, was an Björks nunmehr fünftem Longplayer (kommt drauf an, ob man "Selma Songs", den Soundtrack zu Lars von Triers "Singer in the Dark" dazurechnet) überrascht, ist die Tatsache, daß nichts überrascht - aber auch gar nichts. Die ersten drei Nummern klingen wie ein dreimal umgearbeitetes "All Is Full Of Love", da hilft auch Matmos´ flutschiges Laptop-Gegluckse nicht, und die Streicher am Schluß verkleben sowieso immer alles. Überhaupt scheint sich die nordische Elfe von ihren Ausritten in die Welt des Films nicht so recht erholt zu haben.
Die Glocken-Sounds sind viel zu hell und nerven schon nach dem zweiten Einsatz. Sie erinnern vage an eine sich immer wieder selbst aufziehende Kinderuhr. Und wo zum Teufel stecken Matmos schon wieder? Waren sie überhaupt im Studio? Vielleicht erstarrten sie angehörs Björks ungebremsten Sendungsbewußtseins, aber nicht jeder will missioniert werden. Auch muß nicht immer das Beste sein, was quasi apodiktisch von allen als das Beste ausgegeben wird. Nur allzu leicht schmilzt die Eisbrücke, und was darunterliegt, ist blanker Kitsch.
Nette Anekdoten ranken sich um das "Production Design" des Albums. Von Field-Recordings wie "Fußstapfen im Schnee" war hier bereits die Rede, und gerne verweist Björk in Presse-Interviews immer wieder auf das Kind im Erwachsenen.
Kinder programmieren keine Sampler!
Das ganze Getue ist es doch zumindest wert, hinterfragt zu werden. Man ist ja sonst auch nicht so zimperlich. Und Obacht ist angesagt, wenn Fans Homepages zu Ehren ihrer Lieblings-Ikone einrichten und den JPGs Namen wie "Eisprinzessin" verpassen. Also nur ja nicht so unschuldig tun, ja?
Die Klangauswahl ist sehr stimmig, jedoch von so markantem Wiedererkennbarkeitswert, daß die Nummern schwer auseinanderzuhalten sind. Immer wieder schmiegen sich Streicher an unser Ohr, konterkariert Björk mit schrillem Organ jazzig bis operettenhaft klassisch, stets hart an der Grenze zum Overkill. Bitte nicht soviel Schokolade, wir platzen schon! Das gilt übrigens auch für Matthew Herbert ("Bodily Functions") der auf der "Vespertine"-Credit-Liste ebenfalls vertreten ist.
Björk Gudmundsdóttir hat sich also endgültig von der harschen und enttäuschenden Realität zurückgezogen. Auch in Disneyland läßt es sich ja toll leben, mit winkenden Mickymäusen in Zeitlupe und viel viel Schnee. Schaumgebremst und artifiziell ist diese Welt und eine Mischung, die nicht jedem schmeckt.
Mit "Vespertine" jedenfalls ist es nicht möglich, Geniestreiche wie "Debut" oder "Homogenic" zu übertreffen. Zum Abschluß wollen wir aber noch ein kleines Rätsel erfinden. Was bedeutet eigentlich der Albumtitel, und warum sieht das Cover aus wie ein Stilmix aus z. B. "Revolver" von den Beatles und älteren Pink-Dots-Zeichungen? Kleine Hilfe gefällig? Vesper nennt man das Abendgebet eines jeden Gottesmannes, und "Jus-tine" ist ein Reißer von de Sade. Viel Spaß beim Weiterknobeln.
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