Dem Phänomen der legendären Sex Pistols auf der Spur: Julien Temples sehenswerte Dokumentation "The Filth and the Fury" läßt den Geist von Punk filmisch wiederauferstehen und entgeht der Falle reiner Mythenbildung.
Passend zum klamaukhaften Abklatsch des Neo-Punk-Etikettenschwindels und 20 Jahre nach seinem "The Great Rock´n´Roll Swindle" porträtiert Film- und Videoregisseur Julien Temple ("Absolute Beginners") erneut die Sex Pistols, die dereinst mit "Anarchy in the U. K." Punk und damit die letzte echte Jugendbewegung begründeten. Der Blick zurück ist glücklicherweise unsentimental und weniger zornig als zwiespältig. Denn unterschwellig thematisiert die äußerst kurzweilige Dokumentation auch: Wie lebt´s sich als Überlebender einer Kultband im Alter?
In einer großartig detailverliebten Montage zeichnet Temple mit historischen Dokumenten, Interviews, Film- und TV-Aufnahmen erst einmal Stimmung und Lebensgefühl der 70er in England nach: Die sozialen Spannungen und Unterschiede, die explosive Kluft zwischen den Klassen und der "Filth" einer verlogenen, realitätsverweigernden Gesellschaft sind die Ursuppe, aus der diese Musik erst hervorbrechen kann. Die Vorstadt-Kids Johnny Lydon alias Rotten, Paul Cook, Glen Matlock und Steve Jones artikulieren ihre Perspektivlosigkeit und Verdrossenheit über ein zynisches Establishment und eine saturierte Musikszene voller manieristischer Pop-Dinosaurier mit musikalischer wie optischer Rebellion und Schock: rohe, dilettantische Songs und trashig-kaputte Outfits sind die wütende Antwort, die den Unmut einer ganzen Generation ausdrückt.
Auftritt Malcolm McLaren. Der viel gedisste, mephistophelische "Erfinder" der Sex Pistols erscheint nicht persönlich vor den Kameras, also entwirft Temple aus alten Interviewpassagen und Erzählungen der Band eine skizzenhafte Charakterstudie hinter einer SM-Ledermaske. Sein kreiertes Image inklusive Look und vor allem sein cleveres Spiel mit Medien und Label-Industrie, die den Erfolg, Ruhm und Ruf der Sex Pistols erst entstehen ließen, sind für ihn - so will es "The Filth and the Fury" - ein guter Witz, über den er noch heute lachen kann. Und die überlebenden Ex-Pistols sind in der Frage, welche Rolle sie dabei eigentlich spielten, etwas uneins von schalen Gefühlen und Selbstzweifeln geplagt. Bravourös dokumentiert sind die bekannten Stationen des anfänglichen Schockierens und Aufbegehrens bis zur destruktiven Eigendynamik mit allen Schattenseiten, die die Jungs erst nicht erkannten, dann nicht ganz verdauen konnten. Der amüsante Aspekt: die gegenseitige üble Nachrede aufeinander. Der tragische: Heroinsucht und Tod von Sid Vicious, der den Beteiligten heute aus der Distanz der Jahre als sinnloses Opfer erscheint, das aber Geld brachte und den Grundstein zur Legende legte.
Der fein herausgearbeitete Zwiespalt zwischen Zementierung und gleichzeitiger Ernüchterung des Mythos bei den Überlebenden ist ein Verdienst, der den Film trotz zahlreicher Begegnungen mit alten Songs und Bekannten (Billy Idol, Siouxsie u. a.) ziemlich unnostalgisch macht. Der zweite Bonus ist die geradezu exemplarische Darstellung, wie Kultbands fast ohne eigenes Zutun entstehen, wenn sich nur das immer gleiche Schema abspielt: Man nehme Working-Class-Kids, einen gewieften Manager, idealistische Fans, skrupellose Medien und Plattenfirmen sowie ein paar handfeste Skandale; das ist der Weg zum Ruhm. Der Weg zum Untergang wiederum ist mit viel ungleich verteiltem Geld, einer "bösen" Frau, Drogen, Suff und dem Verrotten von Idealen und Kreativität gepflastert. Wer nicht gleich stirbt, ist dazu verdammt, im Alter als lebende Legende, die kaum jemand haben will, weil sie weder Glamour noch Ekel bietet, überzubleiben. So unterschlägt der Film folgerichtig auch das unnötige Comeback vor einigen Jahren sowie damalige andere Punk-Bands.
Die letzte, fast rein von unten kommende Revolte der Kids, die ohne MTV und Hochglanzpostillen einen authentischen Ausdrucks ihres Lebensgefühls fand, scheint heute so weit weg wie von einem anderen Stern. Daß sie nur etwas mehr als 20 Jahre her ist, wird selbst die real Dabeigewesenen etwas erstaunen. "The Year that Punk Broke" war nicht 1991, sondern 1979.