Print_Print-Tips/Special: Anti-Sommerlektüre

Urlaub mit Anspruch

Sonne, Meer und leicht verdauliche Schwedenkrimis – so sehen Spießerurlaube aus. Leser mit Selbstachtung reisen literarisch lieber in schottische Flecken oder sibirische Städte.    22.06.2006

 

Reinhard Ebner

Henri Barbusse - Die Hölle

(L´Enfer)


Bibliothèque Albin Michel (Paris 2000)

 

Ein Buch des späteren Pazifisten Henri Barbusse, das heute so gut wie vergessen, aber nicht zum Vergessen ist. Die "Handlung": Ein junger Mann zieht in eine fremde Stadt und bezieht ein Zimmer in einer Pension. Durch ein Loch in der Wand verfolgt er das Kommen und Gehen im Nebenzimmer. Klingt fad wie Handke, ist aber kurzweiliger als ein guter Thriller - inklusive einer detaillierten Passage über die posthumen Verwesungs- und Zersetzungsprozesse, die überraschenderweise mit einer Liebeserklärung an Immanuel Kant endet. Leider ist die deutsche Übersetzung des Werks höchstens mit sehr viel Glück antiquarisch zu erstehen. Immerhin gibt´s das Buch bei Amazon auf Französisch und Englisch. Wer der Menschheit einen Dienst erweisen will, kann sich gleich einmal an eine zeitgemäße Übertragung ins Deutsche machen.

 

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H. C. Artmann - How much, schatzi?


Suhrkamp Taschenbuch (Frankfurt/Main 2000)

 

Harmonie und eitel Wonne haben im Familienurlaub zu herrschen. Wüste Beschimpfungsorgien, wie sie der große Artmann in seiner boshaften Erzählsammlung fabriziert, haben da rein gar nichts verloren. Und jeder, der gegen diese alte Urlauberregel verstößt, bekommt etwas zu hören - "dieser reithosenbesudler, dieser roßapfelschnüffler, dieser furzkistengandhi, dieser pensionierte schimpanse, dieser mehlsiebscheißer, dieser rinnäugige pissoirwurm, dieser geifernde astlochpimperer" ...

 

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Fernando Pessoa - Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soarez

(Livro do desassossego)


Ammann (Zürich 2006)

 

Beim Hilfsbuchhalter Bernardo Soarez handelt es sich um eines von vier "Heteronymen", unter denen der 1935 verstorbene portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa seine Werke verfaßte; beim "Buch der Unruhe" um dessen - wie´s im Untertitel heißt - "Autobiographie ohne Ereignisse". Ein wunderbares, verschrobenes, nihilistisches, melancholisches, ereignisloses, dickes Buch, das sich aufgrund seiner assoziativen Struktur an jeder beliebigen Seite aufschlagen läßt. Urlaubs- und Nachtkastllektüre der etwas anderen Art.

 

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Buddy Giovinazzo - Potsdamer Platz


Maas Verlag (Berlin 2003)

 

Die Großbaustelle "Potsdamer Platz" ist ein hartes Pflaster - so hart, daß sich sogar die harten Jungs von der US-Mafia die Zähne dran ausbeißen. Die nämlich sind nach Berlin geeilt, um der Türkenmafia im Kampf gegen die Russenmafia beizustehen. So ein internationales Pfadfindertreffen unter Mafia-Clans kann nur in Blut und Beuschel enden. Buddy stellt einmal mehr klar, worin der Unterschied zwischen einem Thriller und einem Nervenfetzer besteht. Ebenfalls lesenswert: seine Beiträge zur großartigen Anthologie "Antihero" und "Broken Street" (allesamt aus dem Hause "Pulp Master").

 

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Comte de Lautréamont - Die Gesänge des Maldoror

(Les Chants de Maldoror)


Rowohlt (Reinbek b. Hamburg 2004)

 

"Ich habe lachen wollen wie die anderen; aber dies war unmöglich. Ich habe ein Federmesser mit scharfer Klinge genommen und mir das Fleisch dort aufgeschlitzt, wo sich die Lippen vereinigen ..." Im Tonfall homerischer Epen beschwören die mit Splatter und Slasher-Elementen durchtränkten "Gesänge" einen ebenso blutrünstigen wie schwermütigen Antichristen herauf, um sich mit diesem konsequent zu identifizieren. "Die Gesänge des Maldoror" ist eines der seltsamsten Werke der Weltliteratur von einem Pariser Buchhalter namens Isidor Ducasse (vulgo Lautréamont), der im Alter von 24 Jahren an Tuberkulose starb. Das zum Zeitpunkt des Erscheinens beinahe eingestampfte Buch wäre längst vergammelt, hätte es Surrealistenpapst André Breton nicht 1917 ausgegraben. Der freilich erfreute sich vor allem an sinnfreien Metaphern wie dieser: "schön wie die Begegnung eines Regenschirms mit einer Nähmaschine auf einem Seziertisch".

 

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Robert Burton - Die Anatomie der Schwermut

(The Anatomy of Melancholy)


Die andere Bibliothek/Eichborn (Frankfurt/Main 2003)

 

Wer nicht ohnehin schon depressiv ist, der ist es garantiert nach der Lektüre dieses Buchs. Auf 1400 Seiten (400 davon finden sich in der Ausgabe der "Anderen Bibliothek") sammelte der lebensuntüchtige, aber zum Sterben offenbar zu deprimierte Oxforder Theologe Robert Burton im 17. Jahrhundert Zeugnisse und Argumente für die Schwermut. Genau das Richtige für verregnete Nachmittage in schottischen Moorlandschaften.

 

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David Peace - 1977

(Nineteen Seventy Seven)


Liebeskind (München 2006)

 

Eine bestialische Mordserie im Prostituiertenmilieu setzt das Yorkshire des Jahres 1977 in Angst und Schrecken. Polizeisergeant Robert Fraser und Starreporter Jack Whitehead (eine ständig besoffene Hunter-S.-Thompson-Figur) versuchen den "Yorkshire Ripper" zu stellen und versinken bald in einem Sumpf aus Korruption und Intrigen.

Das klingt soweit nach bekannten, wenn nicht gar abgelutschten Mustern. Was man David Peace nicht zum Vorwurf machen kann, schreibt er doch über einen authentischen Fall. Das eigentlich Bemerkenswerte: der lakonische Stakkato-Tonfall des Autors, der in Verbindung mit einer unerbittlichen Härte in der Beschreibung des Geschehens ein nur schwer verdauliches Lektüreerlebnis beschert. Mehr dazu demnächst in diesem Theater.

 

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