Michel Houellebecq - Die Möglichkeit einer Insel
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(La possibilité d'une île)
DuMont (D 2005)
Photo © Pierre Ferbos
In seinem neuesten Roman zeigt sich das Enfant terrible der französischen Literaturszene auf dem Zenit seiner Sprache. 09.09.2005
Egal, was die anderen Kritiker monieren: Houellebecq ist kein Rassist oder Sexist. Er mag nur die Menschheit nicht, am allerwenigsten sich selbst. So schwankt auch sein Protagonist Daniel stets zwischen Selbsthaß und verzweifelter Begierde nach dem anderen Geschlecht. Doch Frauen sind für ihn kaum mehr als bloßes Mittel zum Zweck. Daniel ist ein Komiker, der "One-Man-Shows" aufführt, immer an der Grenze zwischen Provokation und Degoutanz. Seinen größten Erfolg feiert er mit dem Programm "Am liebsten Gruppensex mit Palästinenserinnen". Je mehr Daniel sich in politischer Incorrectness übt, desto mehr Beachtung findet er bei den Gutmenschen, die in ihm einen "agent provocateur" sehen, der heikle Themen mit der notwendigen Härte aufgreift. Soll heißen: Je rassistischer er agiert, desto mehr loben ihn die Linken als Humanisten, der endlich ausspricht, was alle bewegt. Und so hat Daniel alle Narrenfreiheit dieser Welt.
Es ist freilich Houellebecqs Welt. Und diese liegt in den letzten Zügen. Kriege und der ungezügelte Kapitalismus haben den Menschen die letzten Zukunftsaussichten genommen. Das einzige, was noch übrig ist, ist das individuelle Streben nach Macht und Sex und die Angst vor dem Unausweichlichen: dem Altwerden.
Es war egal, ob du homosexuell, pädophil oder Sodomit warst, alt durftest du nicht sein.
Isabelle, Daniels Geliebte, wird selbst Opfer des Jugendwahns. Sie ist Herausgeberin einer Mädchenzeitschrift namens "Lolita". Als sie feststellt, daß sie selbst nicht mehr der Zielgruppe der Zwanzigjährigen entspricht, kündigt sie und fällt in eine tiefe Depression. Überhaupt sind die Illustrierten in Houellebecqs Welt nur mehr auf Beauty-Produkte und Körperkult ausgerichtet. Sämtliche klassischen Schwerpunkte wie Politik oder Kultur wurden aus ihnen getilgt.
Houellebecq zieht alles durch den Kakao, die politische Korrektheit, die aufgesetzte Anteilnahme der saturierten Bourgeoisie und ihr Sprachrohr: die Medien. Und er braucht nicht gar nicht viel zu übertreiben. Wenn wir uns umsehen, werden wir feststellen, daß wir schon mittendrin sind. In der Dekadenz. Callgirl-Ringe mit Minderjährigen? Ich bitte Sie. Kannibalistische Männer, die einander auffressen? Oder Sektierer, die an UFOs glauben - und davon träumen, "Neo-Menschen" synthetisch zu erschaffen? Fast hat man den Eindruck, als sammle der Autor kuriose Zeitungsausschnitte, um ihre Inhalte später in konstruierter Stringenz aneinanderzureihen.
In Houellebecqs Vision haben die Sektierer, die Elohimiten, gewonnen und in der Zukunft die Weltherrschaft erlangt. Die geklonten Neo-Menschen haben das Sagen. Doch der Preis für ihr ewiges Leben - Bewußtsein und Erinnerung können von Generation zu Generation downgeloadet werden - ist der Verlust jeglicher Emotionen. Kein Leid und keine Leidenschaft können die eintönige Existenz der Neo-Menschen trüben. Und so kommentieren Daniels geklonte Nachkommen der 24. und 25. Generation seinen, Daniel1s Lebensbericht, der den Löwenanteil von Houellebecqs Roman ausmacht. In weiterer Folge wird in der Zeit hin- und hergeblendet - das sorgt für Kurzweil und schafft Platz für allerlei philosophische Betrachtungen. Und Houellebecq hat kein Problem damit, namhafte Männer des Geistes zu zitieren oder zumindest den Leser an sie zu erinnern. Von Teilhard de Chardin bis Joyce reicht sein Repertoire, viel weiter also, als man es ihm nach seinen früheren Büchern, vor allem "Ausweitung der Kampfzone" zugestanden hätte. Damals hatte man noch häufig das Gefühl, nicht Houellebecq, sondern der Alkohol in ihm schreibe. In "Die Möglichkeit einer Insel" ist davon nichts mehr zu spüren.
Zurück in der Gegenwart, in der permanenten Athmosphäre des sozialen und geistigen Verfalls, bleibt Daniel gar nichts anderes übrig, als sich als Komiker möglichst unkorrekt zu verhalten, um berühmt zu werden und ordentlich abzucashen. Er wird sehr schnell sehr reich. Die sechs Mio. Euro, die er mit Ende dreißig sein eigen nennt, interessieren ihn allerdings nicht. Jugend läßt sich nun einmal nicht kaufen, ist aber das höchste Kapital der Menschheit. Wenigstens kann man sich teure Sportwagen leisten. Auch hier hat Houellebecq gut recherchiert - er weiß, welche Protzkarossen von Midlife-Crisis-geschädigten Bonzen erworben werden. Daniel kauft sich auf Anraten seines Agenten einen Bentley Continental, um seinen Geschlechtsgenossen seine Überlegenheit zu demonstrieren. Dann versucht er sich an einigen Drehbüchern, wie etwa "Das Defizit unserer Sozialversicherungsanstalten": Die ersten 15 Minuten etwa wären Großaufnahmen von Kinderschädeln zu sehen, wie Projektile in Zeitlupe und Close-ups ihre Köpfe zum Platzen bringen. Auch das neue Kabarett-Programm "Der Kampf der Zwerge" , in dem er die Moslems als "Geschmeiß Allahs", die Juden als "beschnittene Wanzen" und die syrischen Christen als "Filzläuse Marias" bezeichnet, kann nicht mehr an Daniels einstige Erfolge anschließen, sichert ihm aber einen immerwährenden Kultstatus. Inzwischen, er ist Mitte 40, hat er 34 Millionen Euro zusammengetragen und lebt in Spanien, irgendwo in den Bergen hinter Almeria.
Als sich Isabelle von Daniel trennt, geht mehr zu Bruch, als er sich am Anfang eingestehen will. Selbstzweifel überfallen ihn. Er stellt fest, daß er älter und somit vermeintlich unansehnlich wird. In der Schönheits- und jugendbessesenen Welt gilt es als Schande zu altern. Und immer mehr Menschen beschließen, sich vor ihrem 50. Geburtstag das Leben zu nehmen, um sich und den Angehörigen die "Schande" zu ersparen. (Auch in unserer Leistungsgesellschaft ist bekanntlich kein Platz für alte Menschen; wir bringen sie zwar nicht um, lassen sie aber in Altersheimen vergammeln, nur um sie nicht auf der Straße herumlaufen zu sehen.)
In den nachdenklicheren Momenten, immer dann, wenn Daniel das Leben betrachtet wie ein Außenstehender, der damit nichts am Hut hat, beginnt unter all dem Schutt und Müll der Monotonie des Alltags etwas Geheimnisvolles zu leuchten. Und es ist nicht der hemmungslose Sex, der gemäß aller Erwartungen "typisch Houellebecq" deftig und explizit ausgelebt und beschrieben wird, nein. Ganz tief drinnen nagt noch was anderes als die Unruhe der Lenden: eine unbestimmte Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Liebe, nach einem intelligenten Ansprechpartner, einer Frau. Doch die Frauen, denen Daniel begegnet, haben entweder zu wenig für Sex über (Isabelle) oder zuwenig für die Liebe. Die junge Spanierin Esther, der Daniel schließlich verfällt, betreibt Sex wie andere Leistungssport. Doch sie ist von ihrer Schönheit selbst so geblendet, daß ihr jedes menschliche Gefühl wie Fürsorge oder Mitleid, Hilfsbereitschaft oder Anteilnahme völlig fremd ist. Sie hat regelmäßig mit vielen jüngeren Männern Sex, steht auf S/M - es gibt wirklich nichts Zeitgeistig-abartiges, das Houellebecq ausspart - und duldet Daniel als einen von vielen. Doch nie war er so glücklich, noch nie fühlte er sich so lebendig wie in dieser Frau. Als Esther nach Amerika auswandert, bricht für Daniel endgültig alles zusammen - nun scheint er reif für die Religion.
Er kommt in Kontakt mit der UFO-Sekte der Elohimiten, einer eigenartigen Mischung aus Raelianern und Scientology, skurril und detailreich geschildert, wie gesagt, alles erstklassig recherchiert. Er wird Zeuge der "Wiedergeburt" des Propheten auf Lanzarote, und weil er ein Prominenter ist (und Zeuge eines Mordes), wird er in die erlauchte Gemeinschaft aufgenommen, darf seine DNS abgeben und wird zu einem "Unsterblichen". Obwohl Daniel, der Komiker, immer eine strikt antiklerikale Haltung eingenommen hat, bemerkt Daniel, der Mensch, daß sich in ihm etwas verändert hat. Er beginnt tatsächlich an das ewige Leben zu glauben. Die wissenschaftlichen Erläuterungen über die Weitergabe der Identität sind ja wirklich äußerst plausibel - und sein Leben erscheint ihm mit einem Mal nicht mehr so unerträglich.
Als auch noch Isabelle beschließt, ihrem Leben ein Ende zu setzen, fällt Daniel wieder in eine tiefe Depression. Mit seinem Hund Fox fährt er erneut in sein spanisches Domizil, muß aber feststellen, daß sich das Land in eine riesige Baustelle verwandelt hat. Schlimmer noch: Die Bauarbeiter hassen ihn, weil er reich ist, und überfahren absichtlich seinen Hund. Zeit, endgültig in die Arme der Sekte zu flüchten, die drauf und dran ist, die Weltreligion Nummer eins zu werden. Wie sie nach und nach alle anderen Glaubensrichtungen ablöst, ist faszinierend zu lesen.
1000 Jahre später führen die Neo-Menschen ein Leben ohne Glück und Unglück, ein "ruhiges, freudloses Leben". Sie hausen als Inkarnationen in den zerstörten Städten und kommunizieren via Internet. Es ist ihnen verboten, die Städte zu verlassen. Letztlich haben sich die "Gated Communities" gegen ihre Bewohner gewandt. Daniel25 lernt Maria23 kennen, die sich von ihren Vorgängerinnen deutlich unterscheidet. Sie ist skeptisch und hinterfragt ihre trostlose Existenz. Etwas sagt ihr, daß in der Welt da draußen noch mehr zu finden ist, als ihr von der Religion vorgegaukelt wird. Und so bricht sie mit ihrer Welt und begibt sich auf die Suche nach der Liebe, von der in den Lebensberichten der Altvorderen so viel zu lesen war.
Houellebecqs Entwurf einer zukünftigen Welt und der Zerrspiegel, den er der "geilen" Gesellschaft der Jetztzeit vorhält, ist eine Mischung aus Science Fiction, Sozialkritik und Pornographie. Sieht man von den gelegentlichen geschmacklosen Ausbrüchen ab, kann der Roman auch als Plädoyer für die Liebe und die Freiheit gelesen werden. In Houellebecqs Zynismus liegt viel Zorn, aber auch ein stetes Aufbegehren gegen das System, den Konsumkapitalismus, überhaupt gegen die Dummheit der Menschheit.
Es ist gewiß starker Tobak, der hier verzapft wird, aber die Aufregung der Rezensenten geht ins Leere, schauen wir uns um: Das Leben ist ungerecht und brutal, Frauen werden noch immer wie Menschen zweiter Klasse behandelt, ob in Fernsehshows oder am Arbeitsplatz, der Jugendwahn grassiert, wer älter als 35 ist, findet keine Arbeit mehr.
Houellebecq liest die Zeichen der Zeit, extrapoliert die menschenunwürdigen Lebensverhältnisse der heutigen Lohnsklaven und bietet genug revolutionäre Gedanken, die sich im Gehirn des Lesers verselbständigen. Schade, daß diese auf den Gesetzen einer fragwürdigen Eugenik basieren, aber man muß ja mit ihm nicht immer einer Meinung sein. Kurzum: "Die Möglichkeit einer Insel" sorgt zurecht für viel Gesprächsstoff, polarisiert politisch,
"schockiert" bestenfalls ein paar verkorkste Bildungsbürger, und ist vor allem eines: ein Schrei nach Liebe und Freiheit.
Michel Houellebecq - Die Möglichkeit einer Insel
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(La possibilité d'une île)
DuMont (D 2005)
Photo © Pierre Ferbos
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