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Schmauchspuren #36

Monströse Bahnbaupläne in Stuttgart und blutige Sägespäne in Texas. Alternde Profigangster und noch ältere Meisterdetektive. Der neue Steinfest, ein neuerer Parker, ein längst fälliger Lansdale und ein historischer Holmes. Peter Hiess hat für Sie gelesen.    01.10.2014

Peter Hiess

Heinrich Steinfest - Wo die Löwen weinen

Theiss 2011

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Manchmal geht es gar nicht um Mord. In Heinrich Steinfests neuem Roman Wo die Löwen weinen zum Beispiel beginnt der "Fall" mit der öffentlichen Demütigung eines pubertierenden Buben. Trotzdem soll ein Mitarbeiter der Mordkommission sich der Geschichte annehmen - weil die Spur in dessen alte Heimat Stuttgart führt. Bald geht´s naturgemäß nur noch peripher um die Affäre, ebensowenig wie um eine konventionelle Krimihandlung. Aber die ist man von Steinfest eh nicht gewöhnt.

Der in Deutschland lebende Österreicher setzt stattdessen auf bewußt "unrealistische" Polizeiarbeit, auf Figuren und Ideen, die ebensogut einer Fabel oder einer SF-Erzählung entstammen könnten, auf Witz und Wortspiel. Und auf eine sehr klare politische Aussage, die sich um "S21" - das irrwitzig teure und größenwahnsinnige Stuttgarter Bahnhofsprojekt - dreht, das gestandene Kleinbürger zu bestens informierten Revoluzzern machte, die EU-deutsche Politik von ihrer widerlichsten Seite zeigt(e) und in einer absurd-brutalen Schlacht mit der Polizei ihren bisherigen Höhepunkt fand.

Aber auch das ist noch nicht alles: Als weitere Protagonisten finden wir einen "Wutbürger" auf Rachefeldzug, einen österreichischen Archäologen ("weil es für jede Geschichte einen Österreicher braucht"), eine hinreißende Leibwächterin, cineastisch und musikalisch gebildete türkische Gangster, Maschinengötter sowie einen Hund namens Kepler, der möglicherweise die Reinkarnation eines früheren Krimihundes ist. Aber das alles sollten Sie lieber selbst lesen.

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Richard Stark - Keiner rennt für immer

dtv 2011

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Ersparen dürfen Sie sich andererseits die Lektüre von Keiner rennt für immer, eines Thrillers aus der neuen Parker-Reihe, die der mittlerweile verstorbene Amerikaner Donald E. Westlake unter seinem Pseudonym Richard Stark ab Ende der 90er Jahre schrieb. Fans des Berufsverbrechers ohne Vornamen sehen sich hier zwar mit einem Plot konfrontiert, der auch aus der "klassischen" Parker-Ära - den frühen Sixties - stammen könnte (ein geplanter Geldtransport-Raub rund um eine Kleinstadt-Bankenfusion), aber die Luft ist heraußen. Das liegt daran, daß Stark/Westlake sich nicht mehr auf das Hardboiled-Element und die Darstellung des einsamen Gangster-Lebens verläßt, sondern psychologisiert, zu oft die Erzählperspektiven wechselt und damit seiner Story das Tempo nimmt. Andererseits findet man als Genre-Fan auch hier noch ein paar gute Sprüche, die es sich ins Stammbuch zu übernehmen lohnt, zum Beispiel: "Ich finde ja immer, es ist eine Verschwendung, eine gutaussehende Frau umzubringen. Aber wir leben in einer verschwenderischen Welt."

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Joe R. Lansdale - Kahlschlag

Golkonda 2010

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Ein wahres Meisterwerk hingegen ist Kahlschlag, die deutsche Fassung des Romans Sunset and Sawdust (2004) des Texaners Joe R. Lansdale - eines Autors, der bisher nur Lesenswertes geschrieben hat. Sunset heißt die Frau des Sheriffs von Camp Rapture, eines Kaffs im Texas der 30er Jahre, das von einer Sägemühle beherrscht wird. Und Sunset hat genug davon, von ihrem Mann verprügelt zu werden, also erschießt sie ihn eines Tages. Was sie damit auslöst, wird nur jene Leser überraschen, denen Lansdales Erzählfreude neu ist: Die Schwiegermutter treibt den eigenen Ehemann aus dem Haus und in den Selbstmord, Sunset wird Sheriff (nicht gerade üblich in dieser Zeit) und macht einen attraktiven jungen Landstreicher zu ihrem Hilfssheriff, Häuser werden von Stürmen weggeblasen oder abgebrannt, böse und irre Killer gehen um, Ölspekulanten wollen einen fleißigen Schwarzen um sein Grundstück betrügen.

Zu einer solchen Ereignisfülle gehört natürlich auch ein gerüttelt Maß Brutalität; der Lansdale-typische Humor und Sprachwitz (auch in der gelungenen Übersetzung) kommen jedoch ebenfalls nicht zu kurz. Und was bei vielen deutschsprachigen Autoren ein einziges peinliches Zeigefingerschreiben (Feminismus! Antirassismus! Böse Rednecks!) wäre, ist hier mit großer Liebe zu den Protagonisten/innen und ihrer Welt erzählt. Ein Mann oder eine Frau tun eben, was sie tun müssen - und was anständig ist ...

Erschienen ist Kahlschlag übrigens im umtriebigen deutschen Golkonda-Verlag, von dem man unbesehen alles kaufen kann und der auf dieser Seite garantiert noch öfter behandelt werden wird.

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A. C. Doyle - The Valley Of Fear

Hard Case Crime (Dorchester Publ.) 2009

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Rätselhaftes lieferte die hierorts so beliebte Reihe Verlag Hard Case Crime kurz vor dem Ende ihrer ersten Inkarnation. "Years ago, a P. I. out of Chicago brought justice to a dirty town. Now he´s going to pay" lautet der coole Spruch auf dem Backcover. Und man fragt sich, wer denn dieser A. C. Doyle ist, der The Valley of Fear verfaßt hat.

Nach ein paar Schrecksekunden ist man dann überrascht, daß es sich tatsächlich um den guten alten Arthur Conan und seinen letzten Holmes-Roman Das Tal der Angst handelt. Der ist fürs Genre zwar durchaus bedeutend, aber warum man ihn den Amis als Pulp-Thriller (noch dazu ohne jedes Zusatzmaterial) andrehen muß, bleibt etwas rätselhaft. Nur für Komplettisten.

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"Schmauchspuren"


... erscheint in gedruckter Form seit 2005 in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

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