Print_Jan Weiler - Maria, ihm schmeckt´s nicht!

"Meine liebe Jung"

Gastarbeiter hatten es in Deutschland schon schwer, als sie noch dringend gebraucht wurden. Aber so mancher wußte sich mit ganz eigenen Lebensweisheiten zu helfen.    23.02.2004

Irgendwann verehelicht sich Jan Weiler, der Chefredakteur des "SZ-Magazins". Das tun ja viele Menschen. Doch der geborene Rheinländer heiratet in eine italienische Familie ein. Als er sich seinem zukünftigen Schwiegervater Antonio vorstellt, kann er den wegen des Gegenlichts, das im Wohnzimmer des Krefelder Reihenhauses herrscht, erst einmal gar nicht erkennen. Antonio, das wissen wir an dieser Stelle schon, ist "ein wenig anstrengend", "manche fänden ihn wunderlich", "eine Art Windmaschine, die aber nicht nur Luft bewege, sondern auch Herzen". So beginnt Weilers Buch "Maria, ihm schmeckt's nicht!"

Was zu Beginn wie die reinste Situationskomik anmutet, entpuppt sich im Lauf des Buches als die mindestens so berührende wie immer wieder überraschende Lebensgeschichte von Antonio Marcipane, dem Mann, der 1961 als einer der ersten "Gastarbeiter" aus dem italienischen Campobasso (ja, "in culo al mondo", oder auch: irgendwo in der Nähe von Neapel) als gelernter Dreher und Schlosser nach Osnabrück kam. Dort wurde er in einer Wohnbarracke mit zwei Spaniern und einem Portugiesen untergebracht, machte die Arbeit, die andere nicht machen wollten, mußte für Strom, Gas und Wasser extra zahlen und bekam schneller eines auf die Nase, als ihm lieb war. Tonio, der Zeiträume in Handlungen mißt (dauert so lange wie einkaufen) und ein ganz eigenes Rechensystem ("Antonio-Zahl") hat, beschließt irgendwann, in seinem eigenen Universum zu leben, um nicht an Leib und Seele zu zerbrechen. Er handelt nach der Devise: Wenn einem die anderen das Leben zur Hölle machen, dann lebt man selbst eben im Himmel - und der ist in Antonios Fall die Erde.

Es verschlägt ihn als Kellner nach Oldenburg, in eine Hühnerbraterei, dann in ein italienisches Restaurant in Krefeld. Dort lernt er Ursula, seine zukünftige Frau, kennen. Als Ausländer wird er mißachtet, betrogen, hintergangen - und erträgt das alles mit einem beinahe unheimlichen Gleichmut. Weil ihm niemand eine Wohnung vermieten will, baut er seiner Familie ein Haus. Und weil er nur ein "Gastarbeiter" ist, verdoppelt die Bank die Zinsforderung für den Baukredit. So geht es unaufhörlich weiter. Doch Antonio hält durch und an seiner Überlebensstrategie fest, bis heute, was immer wieder zu urkomischen Situationen führt. Weilers Porträt ist ein Buch über das Fremdsein, auch im eigenen Land, über die fast vergessene Zeit des "deutschen Wirtschaftswunders" und ein Werk, bei dem uns gelegentlich das Lachen im Hals stecken bleibt, weil Tragik und Komik des Alltags so nahe beieinander liegen. Gut beobachtet und schön aufgeschrieben. Von einem, der - wie Tonio so schön sagt und es durchaus als Kompliment meint - "keine dumme Salat ist".

 

Stefan Becht

Jan Weiler - Maria, ihm schmeckt´s nicht!

ØØØØ

Geschichten von meiner italienischen Sippe


Ullstein-Verlag (München 2003)

Links:

Kommentare_

Akzente
Ein Bild und seine Geschichte #2

Die coole Einstiegsdroge

Stefan Becht macht sich schon wieder Gedanken. Im Mittelpunkt der zweiten Ausgabe von "Ein Bild und seine Geschichte" steht Edward Steichens Ablichtung des Stummfilmstars Gloria Swanson.  

Akzente
Ein Bild und seine Geschichte #1

All Tomorrow´s Parties: Wie im richtigen Leben, nebenan

Stefan Becht macht sich endlich wieder für EVOLVER Gedanken. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit: ein Bild, ein Buch und die Geschichte dahinter. In der ersten Ausgabe dreht sich alles um "I went to the worst of bars hoping to get killed. but all I could do was to get drunk again" von Ciáran Óg Arnold.  

Stories
William Gibson im Interview

"Meine neue Droge ist Jetlag"

Stefan Becht und Markus Friedrich trafen den "Granddaddy des Cyberspace" wieder einmal zum Gespräch - und der EVOLVER präsentiert das Interview erstmals in seiner ungekürzten Fassung. Cyberpunk ist für Gibson "nur noch eine Pantonefarbe im bunten Farbfächer der Popkultur".  

Stories
Web-Welt und E-Book-Reader

Die Rechnung ohne den Wirt

Auf der Leipziger Buchmesse will man uns wieder einmal erzählen, daß bedrucktes Papier der Vergangenheit angehört. Stephan Becht fragt nach, wer am Hype rund ums elektronische Buch verdient: Frißt die Revolution schon ihre Kinder, bevor sie überhaupt begonnen hat?  

Stories
Web-Welt: Amazon kauft Fabric.com

All That Money Can Buy

Kaufrausch ohne Ende: Amazon hat mit der Modestoff-Großhandels-Seite Fabric.com schon wieder einen Zukauf getätigt - und Jeff Bezos beteiligt sich außerdem am Micro-Blogging-Dienst Twitter.  

Akzente
The Experimental Witch

Einer für alle, alle für einen

Bestseller-Autor Paul Coelho läßt seine Leser via MySpace und YouTube seinen Roman "Die Hexe von Portobello" verfilmen. Warum? Stefan Becht weiß Genaueres.