Musik_V/A - Eat To The Beat

Sex, Drugs & Rock´n´Roll

Nicht harmlos anrüchig oder schlüpfrig, sondern eindeutig und handfest sind die Songs auf dieser Compilation. Das wird nicht nur Blues-Fans Freude machen.    21.12.2006

Gut schaut sie aus, die vorliegende CD. Aber das ist kein Wunder, denn hinter dem opulenten Ohrenschmaus für Connaisseure steht die einschlägig bekannte Plattenfirma Bear Family. Papp-Cover im herrlichen Patina-Look und ein 84seitiges Booklet - so macht man Platten für Sammler. Im Buch wird Wissenswertes zur Entstehungsgeschichte der Songs und zu den Künstlern erzählt; damit kann man im Expertenkreis prima punkten. Aber nur da, denn selbst die bekannteren der Interpreten kennen heute nur noch wenige. Jackie Wilson, Screamin´ Jay Hawkins, Johnny Otis (als Two-Time Slim), Dinah Washington oder die Clovers waren Stars, The Toppers oder Dorothy Ellis spielten eher in der B-Liga. Das sagt allerdings nichts über die Qualität der Künstler aus.

Eines haben alle gemeinsam: sie sind schwarz. Dieser Umstand führte dazu, daß ihre Lieder in den USA unter "Race Music" einsortiert wurden und sich im Erfolgsfall auch in den Race-Music-Charts wiederfanden. Der amerikanische Rassismus machte selbst die Großen wie Louis Jordan oder Nat "King" Cole zu Musikern zweiter Klasse, einem Stück Underground inmitten des weißen Pop und seiner ebenfalls von Weißen beherrschten Musikindustrie.

Diese Ungerechtigkeit ermöglichte erst die Aufnahme der vorliegenden Songs: Bing Crosby oder auch der junge Frank Sinatra hätten niemals so explizit über sexuelle Handlungen und den Austausch von Körperflüssigkeiten singen können, weil sie die Tabugrenzen nicht übertreten durften. Auf "Eat To The Beat" wird nicht angedeutet, nicht geschmust oder keusch Händchen gehalten. Hier gibt´s Zungenküsse und -leckereien, hier wird gevögelt. Es geht um pure Lust - und dafür finden die Texter passende und eindeutige Worte.

 

Man muß sich vergegenwärtigen, daß die Songs aus den 40er und 50er Jahren stammen. Da herrschte in unseren Breiten noch Adolfs Freikörperkultur bzw. die Prüderie von Adenauerscher und Figlscher Prägung. Und auch das weiße Amerika übte sich damals - zumindest an der Oberfläche seines neuen Bürgertums - in Sexualitätsfeindlichkeit.

Die Verlogenheit führte freilich zu wunderschönen Pin-ups, war aber natürlich auf perfide Art wesentlich sexistischer als die Lieder auf dieser CD, die sich unter anderem durch Gleichberechtigung auszeichnet. Frauen sind hier keine Opfer, lassen sich nicht "flachlegen", sondern nehmen sich, was sie brauchen. Das klingt selbst für heutige Ohren ungewohnt offen und muß auch damals weit über die Grenzen des Schicklichen hinausgegangen sein. Anstößiges wie "Think Twice", ein Duett von Jackie Wilson und LaVern Baker, entstand aus einer privaten Laune der Stars und war nie zur Veröffentlichung vorgesehen. Auch Fred Wolffs "Somebody Else Was Suckin´ My Dick Last Night" gab es nie offiziell auf Schellack oder Vinyl.

Andere, genauso explizite Songs wurden sehr wohl veröffentlicht und erfreuten sich auch ohne Radio-Airplay größter Beliebtheit. Der "Sixty Minute Man" der Dominoes um Billy Ward und den späteren Drifters-Hauptsänger Clyde McPhatter ist ein absoluter Blues-Standard. Männliche Prahlerei wie Bullmoose Jacksons "Big Ten Inch Record" steht neben dem Wunsch nach Größe (Dinah Washington: "Big Long Slidin´ Thing"), weibliches Begehren wie in Annisteen Allens "I Wanta Man (Who´s Gonna Do Right)" oder Julia Lees "Don´t Come Too Soon" neben männlichem wie in Screamin´ Jay Hawkins´ "Bite It" oder "(I Love To Play Your Piano) Let Me Bang Your Box" von den Royals.

In den Liedern geht es zur Sache, aber meist existiert eine Nähe zwischen "Lust" und "lustig", wie zum Beispiel bei Dave Bartholomews "My Ding-A-Ling". Der Songwriter aus dem sumpfigen Louisiana nahm das Lied bereits zwei Jahrzehnte auf, bevor Chuck Berry damit einen Hit landete.

Das dokumentiert auch, daß diese Blues-Stücke echter Rock´n´Roll sind. Wir wissen ja: "R&R" bedeutet ...


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

V/A - Eat To The Beat. The Dirtiest Of The Dirty Blues

ØØØØØ


Bear Family (D 2006)

 

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