Throbbing Gristle - Part Two: The Endless Not
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Mute/EMI (GB 2007)
Vor 26 Jahren lösten sich die Industrial-Pioniere mit den Worten "The mission is terminated" auf. Jetzt lassen die ehemaligen "Zerstörer der Zivilisation" mit einem neuen Album doch noch einmal von sich hören. 25.04.2007
Comebacks sind in der Regel mit einer Menge enttäuschter Erwartungen verbunden. Wenn Bands, die über Jahrzehnte in der Versenkung verschwunden sind, plötzlich wieder auftauchen, steckt dahinter immer der verzweifelte Versuch, eine vergangene Ära in die Gegenwart zu übertragen oder zumindest nahtlos an alte Glanzzeiten anzuknüpfen. Dabei wird ignoriert, daß Musik und ihre Inszenierung immer auch Zeit und Ort ihrer Entstehung widerspiegeln. Im Falle der einstigen Skandal-Band Throbbing Gristle, die als Erfinder der "Industrial Culture" gelten darf, war die Auslotung der Extreme fest im repressiven Klima der Thatcher-Ära in Großbritannien verwurzelt. Gerade bei einer Band, die nach so langer Zeit wieder auftaucht, fragt man sich natürlich, ob sie 2007 überhaupt noch etwas Relevantes zu sagen hat.
Mehr als ein Jahr nach dem geplanten Veröffentlichungstermin ist es nun endlich soweit: "Part Two - The Endless Not" schlägt auf dem Musikmarkt ein. Natürlich sind die Jahre nicht spurlos an den Band-Mitgliedern - die in der Zwischenzeit verschiedene Projekte wie Coil, Chris & Cosey oder Psychic TV betrieben haben - vorübergegangen. War das Phänomen Throbbing Gristle einst noch eng an Live-Performances voll provokant-pseudofaschistischer Ästhetik und infernalischem Lärm gekoppelt, so konzentriert sich die Band heute hauptsächlich auf die Musik.
Das Album beginnt mit dem aggressiv vor sich hin rumpelnden "Vow Of Silence", das mit seinen gregorianischen Klangflächen und dem elektronisch verzerrten Kreischen von Genesis Breyer P-Orridge (das "Breyer" steht für ein neues Identitätskonzept des Sängers, der nun mit "echten" Brüsten die Vorzüge beider Geschlechter genießen möchte) wie ein unheimliches Stammesritual klingt und eine faszinierende Sogwirkung entwickelt. Wie die verschiedenen Sound-Effekte bei gleichbleibendem Rhythmus übereinandergelagert werden, das kennt man noch von früher. Bis auf die zehnminütige improvisatorische Klang-Collage "Greasy Spoon" stehen die einzelnen Sounds heute jedoch nicht mehr für sich, sondern reagieren mehr aufeinander und formen sich zu einem einheitlichen Ganzen.
An den titelgebenden Track des wohl bekanntesten TG-Albums, "20 Jazz Funk Greats" (1981), fühlt man sich durch "Rabbit Snare" erinnert, auf dem P-Orridge zu einem jazzig schleppendem Rhythmus, der wie eine Filmkomposition von Angelo Badalamenti klingt, immer wieder mit schläfriger Stimme fragt: "Why are you scared? Do you love me?" Bei solchen Stücken wird deutlich, daß Throbbing Gristle nicht nur - wie häufig dargestellt - Industrial- und Noise-Pioniere sind, sondern sich einer vielfältigeren Klangsprache bedienen. So haben sie mit ihren mechanisch eingesetzten Sounds und Rhythmen auch einige Grundsteine für die Entwicklung von Techno gelegt und seit jeher auch eine gewisse Pop-Affinität bewiesen.
Auf "Part Two - The Endless Not" zeigt die Band mit "Almost A Kiss", dem heimlichen Hit des Albums, wie gut sie in diesem Bereich sein kann, ohne sich dem Mainstream anzubiedern. Während kitschige Synthie-Töne und ein Kinderchor fast schon einen Hauch von Easy Listening verströmen, verausgabt sich P-Orridge auf theatralische Weise mit seiner Reibeisenstimme. "Almost A Kiss" ist ein gutes Beispiel für eine poetischere Ausrichtung TGs, die mit einer Öffnung gegenüber wärmeren Klängen und Melodien einhergeht. Dies gilt auch für die plötzlich nuancierter eingesetzte Stimme des Sängers, der beinahe Crooner-Qualitäten entwickelt.
Chris Carter und Cosey Fanni Tutti, die schon damals für die sanfteren Töne der Band standen und sich heute solo und mit ihrem gemeinsamen Musikprojekt eher im Bereich des ätherischen Ambient bewegen, verstärken die Tendenz zu einer neuen Milde mit den Eigenkompositionen "After The Below" und "Separated". Sicher sind beide Stücke manchmal gefährlich nah an einlullender Gefälligkeit, doch ihre düstere Schönheit wie auch ihre Plazierung als Kontrast zu einem Stück wie dem turbinenartig vor sich hinpumpenden Industrial-Manta "Lyre Liar" retten sie und unterstreichen die Wirkung des Albums als Gesamtwerk.
Einziger Wermutstropfen: Leider sind auch TG trotz vieler Anknüpfungspunkte an alte Zeiten der digitalen Revolution zum Opfer gefallen und haben Kassettenrekorder und anderes analoges Equipment gegen den glasklaren Klang eines Laptop eingetauscht. Im Gegensatz zur häufig dumpfen Klangqualität früherer Alben hört man zwar jetzt jedes Klicken und Ziepen, doch genau diese scheinbare Verbesserung birgt auch Nachteile in sich. Die digitalen TG klingen nicht nur steriler, sondern haben den einst sehr einfachen Aufbau der Stücke gegen eine viel komplexere Struktur eingetauscht. Das führt dann etwa dazu, daß der Titel-Track "The Endless Not" mit seinen filigranen Klängen immer wieder droht, zur chaotisch blubbernden Sound-Suppe zu werden.
Mit "After The Fall", einem immer lauter werdenden Drone, der von einer rudimentären Klaviermelodie begleitet wird, findet das Album dann aber doch noch einen krönenden Abschluß und zeigt, daß Throbbing Gristle vielleicht ein wenig altersmilde geworden sind, aber letztendlich immer noch faszinierende Musik machen können, die ihre perfekte Wirkung im Dunkeln und bei voller Lautstärke entfaltet.
Das Donaufestival in Krems bietet am 29. und 30. April übrigens zwei Gelegenheiten, Throbbing Gristle mit einem Konzert und einer Vertonung des Derek-Jarman-Films "In the Shadow of the Sun" live zu erleben. Und wer immer noch nicht genug von den ehemaligen "Zerstörern der Zivilisation" hat, kann sich die zusammen mit "Part Two - The Endless Not" wieder veröffentlichten Alben "D.O.A" sowie den Soundtrack zu Jarmans Film anschaffen. Die Mission ist also noch lange nicht beendet.
Throbbing Gristle - Part Two: The Endless Not
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Mute/EMI (GB 2007)
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