Neil Diamond - 12 Songs
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Sony BMG (USA 2005)
Rick Rubin hat wieder einen Altstar ausgegraben - und der hat die Größe, an die letzten Cash-Alben anzuknüpfen. Sein neues Album ist schlicht und ergreifend zum Niederknien. 16.12.2005
Eigentlich sollte dieses Jahr die fünfte und letzte CD mit "American Recordings" von Johnny Cash herauskommen. Man ließ aber Todestag und Geburtstag verstreichen und verschob den Veröffentlichungstermin immer und immer wieder in Richtung Sankt-Nimmerleins-Tag. Aus dem Umfeld von Rick Rubin ist zu hören, daß die buckligen Cash-Erben für das Chaos verantwortlich sind. Doch Rubin, Entdecker der Beastie Boys, von Slayer oder Public Enemy, ließ sich nicht von der Cash-Bagage ärgern und zog mit dem 64jährigen Neil Diamond eine weitere Ikone der US-Musikhistorie an Land bzw. ins Studio.
Cash war ein Landei aus dem hintersten Arkansas, während Diamond aus der Metropole New York stammt. Doch die Gemeinsamkeiten überwiegen: Beide Künstler waren jahrzehntelang bei Columbia unter Vertrag, beide ließen sich in den 80er Jahren ziellos treiben und versauten mit zusehends billigeren Weichspülproduktionen ihren Ruf. Und beide hätten das finanziell gar nicht nötig gehabt, da ihr Back-Katalog ohnehin genug abwarf und -wirft. Schließlich haben Diamond und Cash zusammengenommen - und nur in den USA - rund 100 Gold- und Platinplatten kassiert. Also zogen sich die in die Jahre gekommenen Heroen aufs Altenteil zurück.
Doch Johnny Cash ließ sich Anfang der 90er von Rick Rubin dazu überreden, mit klarer, trockener Produktion zurückzukommen, und wurde von der jüngeren Generation als Storyteller wieder entdeckt. Vier Alben und eine dicke Box sind das Ergebnis der Zusammenarbeit von Cash und dem bärtigen Tausendsassa Rubin. Diamond schien von Cashs frischem Erfolg beeindruckt und veröffentlichte 1996 ein - allerdings lauwarmes - Country-Album namens "Tennessee Moon". Dann war wieder Pause, und 2001 kehrte er mit der gelungenen "Three Chord Opera" noch einmal zurück. Der gravierende Unterschied zwischen Cash und Diamond ist die Auswahl der Songs. Während Neil für "12 Songs" lauter neue Lieder schrieb, spielte Cash hauptsächlich altes Material neu ein oder machte sich die Stücke anderer zu eigen. Eines davon gab dem dritten Teil der "American Recordings" den Titel; es heißt "Solitary Man" und stammt von Neil Diamond.
Ob diese Version Diamond dazu bewogen hat, sich auf Rick Rubin einzulassen? Das könnte sein. Im Studio spielte Tom Pettys Begleitband, die Heartbreakers - und die arbeiteten bereits an den Cash-Alben mit. Neil Diamond griff, übrigens zum ersten Mal seit über drei Jahrzehnten, wieder selbst zur Gitarre. Man merkt es den "12 Songs" an: Künstler, Band und Produzent schufen einen magischen Moment, der alle 14 Stücke lang anhält. Ja, es sind 14 Stücke, denn die "Bonus"-Variante des Albums enthält das famose "Men Are So Easy" und eine zweite Version von "Delirious Love", dem flottesten Stück der Platte. Und die hat es in sich, denn Brian Wilson haucht ihr ein wenig Beach-Boys-Geist ein.
Das Album beginnt aber mit einem absoluten Meisterwerk, einem ebenso zarten wie kraftvollen Love-Song, der wirklich auch zum alten Cash gepaßt hätte. "Oh Mary" ist eine Hymne für die Ewigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Dann folgen mit "Hell Yeah" und "Captain Of A Shipwreck" würdiger Alterszorn und Weisheit, bevor "Evermore" und "Save Me A Saturday Night" wieder von Liebe erzählen. Mit Mitte 60 weiß man eben, was Liebe bedeutet, und findet die richtigen Worte. "Save Me A Saturday Night" ist romantisch, aber nicht kitschig, ist poetisch, aber nicht künstlich. "Delirious Love" erklärt, daß auch beim Senior noch ab und zu sämtliche Sicherungen durchknallen, "I’m On To You" ist der kleine Swing-Song zum Mitschnippen. Das letzte Drittel der Platte ist geprägt von ruhigen, besinnlichen Momenten. Nur in "Create Me" gibt sich Neil Diamond etwas aufbrausender, doch insgesamt hält sich er zurück - kein Bombast, keine Breitwand-Produktion und nur wenige Selbstzitate. In "Evermore" klingt "I Am ... I Said" an, und "Delirious Love" könnte die Fortsetzung von "Solitary Man" sein.
Schlimm ist nur, daß diese CD hierzulande nicht erhältlich ist - und das, obwohl sie sich in den USA richtig gut verkauft, bald Platin verliehen bekommen wird und die "American Recordings" von Johnny Cash sich auch im deutschsprachigen Raum großer Beliebtheit erfreuen. Verstehe einer die Plattenfirmen ... Wie so oft in letzter Zeit, zum Beispiel bei Antony & The Johnsons, bei den Kaiser Chiefs oder bei Willie Nelson, muß der Musikliebhaber auf Importquellen ausweichen. Wenn dann die CD offiziell in den Läden steht, hat sie schon jeder, und die Musikindustrie kann wieder jammern, daß keiner mehr ihre "Antiquitäten" kauft. Im Falle von Neil Diamond lohnt es sich jedoch unbedingt, die Platte via Amerika zu erstehen. Das kostet auch nicht mehr und man kann sich von ihr in der kalten Jahreszeit wärmen lassen. Ich tippe ja darauf, daß Sony BMG die CD im Juli 2006 herausbringen wird. Das wäre dann richtig dämlich, denn eine Sommerplatte ist "12 Songs" nun wirklich nicht.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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