Musik_Spezialitäten von Georg Friedrich Händel
Entdeckungsreise mit Jacobs
Wenn der Barockspezialist René Jacobs auf Tour geht, kann man sicher sein, daß Überraschungen zu erwarten sind. Dieses Mal hatte er Spezialitäten von Händel im Reisegepäck - eine Oper und ein "weltliches Oratorium". Darüber hinaus gab es mit der russischen Mezzosopranistin Julia Lezhneva eine außerordentliche Sängerin zu entdecken. Von dieser jungen Frau wird man noch sehr viel hören.
04.02.2013
Händels "Radamisto" wurde erstmals 1720 in London aufgeführt; hier im Theater an der Wien entschied sich Dirigent René Jacobs im wesentlichen für die "dritte, modifizierte" Fassung von 1721. Modifiziert ist diese Version insofern, als daß beispielsweise die Frauenrollen Zenobia und Polissena gleichwertig gestaltet oder Änderungen in der Instrumentierung vorgenommen wurden.
Die Oper wurde von Händel als "Opera seria" benannt (das sind auch viele der Opern Mozarts) und ist musikalisch extrem fortschrittlich. So gibt es im dritten Akt erstmals ein Quartett zu hören, was nicht nur bei Händel, sondern in der ganzen barocken Operntradition ein fast gewagtes Unternehmen ist. Und im Finale gibt es nicht den bei Händel obligaten Schlußchor, sondern ein echtes Ritornell (Anm.: ein immer wiederkehrendes Hauptthema mit unterschiedlichen Seitenthemen). Interessant auch, daß der deutsche Komponist im Alter viel formeller und starrer wurde und seine Jugend- und mittleren Werke daher oft viel mutiger, einfallsreicher und beeindruckender wirken.
Alles andere als beeindruckend ist leider die Inszenierung im Theater an der Wien. Der Franzose Vincent Boussard versucht sich an einer Interpretation in Richtung Freudscher Traumdeutung. Man kommt erst nach Lektüre des Programmhefts darauf, wieso der Herrscher Tiridate in diesem barocken Verwirrspiel um Liebe, Krieg und Herrschaft schwer psychotisch wirkt oder warum immer wieder Fische und andere Traumdeutungssymbole als Videoprojektionen auf der Bühne landen. Daß Personenführung und Regie sogar insgesamt gegen die Musik arbeiten, ist nur ein unangenehmer Nebeneffekt. Das recht langwelige Bühnenbild läßt die an sich interessanten Videoinstallationen und Lichteffekte leider nicht zur Geltung kommen.
Zum Ausgleich dafür bescheren der Dirigent (und ehemalige Countertenor) Jacobs und die Sänger dem Publikum ein wahres Musikfest. Mit dem Freiburger Barockorchester interpretiert der barocke Maestro Händels fortschrittliche Musik im großen Bogen von zart und berührend bis hin zu bissig und agressiv; selbstverständlich klingt bei ihm jeder Takt, jede Note bis ins letzte faszinierend. Es ist durchaus positiv zu werten, daß die berühmten Da-capo-Arien von Jacobs so bearbeitet wurden, daß viele Wiederholungen entfallen und die Musik daher erst dramaturgisch und musikalisch richtig interessant klingt.
Die große Überraschung aber ist das Händel-Konzert mit der moraltheologischen Kantate "Il Trionfo del Tempo e del Disinganno" ("Der Triumph der Zeit und der Erkenntnis"), die der Komponist im zarten Alter von 22 Jahren in Rom uraufgeführt hatte. Da die Aufführung von Opern in Rom anfang des 18. Jahrhunderts auf päpstliche Anweisung hin verboten war, versuchten viele Komponisten über den "Umweg" von Kantaten opernhafte Elemente ins Spiel zu bringen - ao auch Händel mit diesem Werk. Übrigens war der Auftraggeber der Kantate Kardinal Pamphilj, der auch das Libretto zu dem Werk verfaßte.
Der Inhalt ist so einfach wie berührend: Der "Schönheit" wird vom "Vergnügen" dauernd eingeredet, daß ihr Aussehen und alles, was dazugehört, unvergänglich seien. Die "Zeit" und die "Erkenntnis" hingegen können sie davon überzeugen, daß alles - eben auch die Schönheit - vergänglich sei. Händel wirkt in diesen guten zwei Stunden musikalisch so mutig wie selten zuvor. Da hört man plötzlich ein Orgel-Concerto (der Komponist war ein äußerst beliebter Organist), zarte Harfenklänge zu den Arien, faszinierende Soli (brillant die Violine bei der Schlußarie der "Schönheit") oder Teile aus bekannten Concerti grossi.
Die aktuelle Aufführung der Kantate ist ein Feuerwerk voll von Brillanz, Virtuosität, Eleganz und Faszination. Was die vier Sänger und die Freiburger Barocksolisten hier abliefern, sollte in den Annalen des Theaters an der Wien festgehalten werden. Eine solche Sternstunde erlebt man heute äußerst selten. Die Koreanerin Sunhae Im mit ihrem berührenden Sopran, der Countertenor Christophe Dumaux oder der Baß Charles Workman - sie alle füllen den Abend mit ihren grandiosen Stimmen.
Allen voran beeindruckt als faszinierende Erscheinung jedoch die 1989 geborene Russin Julia Lezhneva als "Vergnügen". Die Mezzosopranistin erinnert den EVOLVER-Klassikexperten sofort an den Erstauftritt der damals ähnlich jungen Cecilia Bartoli im Konzerthaus, unter Nikolaus Harnoncourt in Mozarts "Lucio Silla" 1989 - also im Geburtsjahr von Julia. Die Sängerin brilliert bei den halsbrecherischen Koloraturen, ob im zartesten Piano oder im Forte - jede Note sitzt punktgenau. Darüber hinaus versteht sie es, im fast flüsternden Pianissimo mit Koloraturen zu interpretieren und nicht nur ihre Virtuosität zur Schau zu stellen.
Übrigens ist während des Konzerts im Publikum ein erstauntes Aufatmen zu vernehmen, als Lezhneva ihre Arie "Lascia la Spina" beginnt. Genau diese Arie verwendete Händel nämlich in der Oper "Rinaldo" unter dem Titel "Lascia qu´io pianga" - eine seiner berühmtesten überhaupt. Dank der grandiosen Sängerin begreift man an diesem wunderbaren Abend auch, warum das Stück so beliebt ist.
Herbert Hiess
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