Musik_Grafenegg, 11. Saison

Was für ein (Musik-)Sommer!

Ende August/Anfang September geht es in Grafenegg heiß her. Dort versammeln sich nämlich seit Jahren die Weltstars der Klassikszene im schönen Schloßgelände vor den Toren von Krems. Nicht einmal in Salzburg hat man die Gelegenheit, eine so geballte Ladung hochwertiger Konzerte innerhalb so kurzer Zeit zu hören. Auch 2017 konnte an das Niveau der Vorjahre anschließen.    11.10.2017

Wegen terminlicher Kollisionen mußte der EVOLVER-Klassikexperte diesmal die Eröffnung des Festivals auslassen - wie kundige Freunde berichteten, hat er da allerdings nicht viel verpaßt.

Ein echtes Versäumnis wäre es jedoch gewesen, dem Konzert der St. Petersburger Philharmoniker unter Juri Temirkanow nicht beizuwohnen, da es sich dabei um eines der phänomenalsten Musikerlebnisse seit langem handelte. Nach einer zweisätzigen Suite aus Rimski-Korsakows Oper "Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch" brachte der phantastische russische Pianist Nikolaj Luganski mit einer umwerfend präzisen Interpretation des 3. Klavierkonzerts in C-Dur von Prokofjew das Publikum zum Staunen. Besagtes Konzert ist fast unspielbar schwierig - doch Luganski und das großartige Orchester schafften es, eine faszinierende Zwiesprache zwischen Orchester und Klavier hörbar zu machen. Genauso kolossal waren dann Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung", die abseits vom "Ohrwurm-Klischee" gebracht wurden. Als Zugabe ließen die St. Petersburger das "Amoroso" aus Prokofjews Ballett "Cinderella" hören. Obwohl das Stück musikalisch zu extremem Kitsch neigt, vollbrachten die Russen auch hier das Wunder einer exzellenten Interpretation.

Weniger exzellent war eine Woche später das Orchesterkonzert des Shanghai Symphony Orchestra unter seinem Chef Long Yu. Der Maestro hatte allerdings das Glück, den Violinweltstar Maxim Vengerov als "Zugpferd" im Konzert zu haben, der trotz der schlechten (gerade an diesem Abend!) Tontechnik und des nicht wirklich erstklassigen Ensembles eine Spitzenleistung lieferte. 

Der großartige Musiker, der aufgrund der Erkrankung einer Hand ein paar Jahre lang pausieren mußte, schaffte offenbar mühelos den Wiedereinstieg in seine Karriere. Selten noch hat man das dieses Konzert so wundervoll "gesungen" gehört - ein wahrhaftes Ereignis. Da mußte man schon froh sein, daß das Orchester nicht wirklich störte. Auch Tschaikowskis "Pathétique" nach der Pause war zwar eindrucksvoll technisch gespielt, doch Lu schaffte es leider nicht, aus den vielen superben Orchestermusikern einen bemerkenswerten Gesamtklang zu schaffen. Schade um die vergebene Chance!

 

Am darauffolgenden Tag bewies dafür die Tschechische Philharmonie umso mehr, was ein weltklassemäßiger Orchesterklang ist. Nach dem viel zu frühen und sehr traurigen Ableben des Orchesterchefs Jiří Bělohlávek sprang dankenswerterweise der hervorragende tschechische Tomáš Netopil ein. Bei ihm sind das Orchester und Antonín Dvořák in besten Händen. Das Resultat war ein in vieler Hinsicht bemerkenswerter Abend. Mit dem Spitzencellisten Truls Mørk (er spielte schon 2012 das Konzert im Wolkenturm) zelebrierten die tschechischen Musiker eine wahrhafte Dvořák-Sternstunde. Quasi ein "Heimspiel" war nach der Pause die 8. Symphonie in G-Dur, die manchmal auch die "Englische" genannt wird. Damit hat sich Netopil allein mit diesem Konzert als neuer Chef der Tschechischen  Philharmonie empfohlen.

Wenn man etwas am wenigsten erwartet, ist die Überraschung umso größer. Dieser Satz bewahrheitet sich öfter, als man annehmen würde - etwa beim Wolkenturm-Konzert des Hausorchesters Niederösterreichische Tonkünstler im spätromantischen Sujet. Es begann mit der Ouvertüre zu Webers Oper "Oberon" und wurde mit sieben frühen Liedern von Alban Berg fortgesetzt. Diese Lieder sind im spätromantischen Stil (also absolut nicht "zwölftönig") und ähnlich den Orchesterliedern von Richard Strauss komponiert. Sie wurden von Marlis Petersen, die man öfter im Theater an der Wien hören kann, großartig gesungen.

Die Orchesterleistung war an diesem Abend fulminant (angefangen vom Hornsolo bei Webers Ouvertüre) und gipfelte im wahrsten Sinne des Wortes bei der programmusikhaften "Alpensinfonie" des Komponisten. Strauss ließ sich von den bayrischen Alpen inspirieren, als er dieses Werk komponierte, das offenbar das gesamte mögliche Instrumentarium seiner Zeit umfaßte (inkl. Heckelphon - einer sogenannten "Baritonoboe"). Yutaka Sado fungierte hier als echt kundiger musikalischer Bergführer. 

Der japanische Chefdirigent des Orchesters, der in letzter Zeit nicht immer mit Höchstleistungen brillierte, lieferte mit den Musikern an diesem Abend eine seltene Sternstunde. Die besten Mitglieder des Orchesters saßen an den Pulten - und der erste Paukist bestätigte wieder die Meinung des EVOLVER-Klassikexperten, daß die Pauke der "Motor des Orchesters" ist. Mit prägnantem Klang, ohne sich je ordinär anzuhören, motivierte er das Orchester gemeinsam mit Sado zu Höchstleistungen. Ein bemerkenswerter Abend, an dem noch dazu das erste Mal nach langer Zeit im Wolkenturm wieder die Orgel zu hören war.

 

Durch die merkwürdige Absage des römischen Orchesters Santa Cecilia (das in Gstaad das Konzert mit einem nahezu identischen Programm spielte), kam heuer ein zweites Mal die Tschechische Philharmonie unter Tomáš Netopil zum Zuge. Dieser Abend war um die Komponisten Mozart und Richard Strauss sowie die Sängerin Diana Damrau zentriert.

War Damrau früher ein hoher (und niemals "leichtfüßiger") Koloratursopran, so hat sie mittlerweile einen Wechsel ins fast lyrisch-dramatische Sopranfach vollzogen. Früher sang sie in "Figaros Hochzeit" die Susanna, jetzt die Gräfin - so wie in diesem Konzert die große Arie aus dem dritten Akt. 

Nach der Pause trug sie noch sieben Lieder von Richard Strauss vor (als Zugabe noch "Cäcilie"). Es ist einfach großartig, wie die charismatische Sängerin aus jeder Arie und jedem Lied fast ein Dramolett macht. Sie singt nicht nur wortdeutlich, sondern ihre Stimme hat sogar noch an Umfang gewonnen. Es war eine Freude, ihr zuzuhören und zuzusehen. Sie outrierte niemals, jeder Takt war begeisterungswürdig und berührend zugleich.

Ebenso qualitativ hochwertig war einmal wieder die Tschechische Philharmonie unter Netopil. Die Lieder wurden vom Orchester und ihm nicht nur begleitet; Diana Damrau bekam den schönsten Klangteppich, den man sich nur vorstellen kann. Exzellent klangen auch auch Mozarts "Haffner-Symphonie" und dann vor allem "Till Eulenspiegel". So waren die Tschechen ein mehr als ebenbürtiger Ersatz für das römische Cecilienorchester.

 

Manfred Honeck war ehemals Bratschist bei den Wiener Philharmonikern und ist seit 2008 Chef des Pittsburgh Symphony Orchestra. Man sollte annehmen, daß er als ehemaliger Philharmoniker ein Gefühl für Klangkultur hat. Nach neun Jahren als Oberhaupt des Orchesters der amerikanischen Industriestadt hat man aber den Eindruck, daß er statt mit dem Taktstock mit dem Holz- oder Stahlhammer dirigiert. Das Orchester ist quer durch die Gruppen mit superben Musikern besetzt; nur müßte man halt an einem fundierten Gesamtklang arbeiten. In Grafenegg hatte man den Eindruck eines bläser- (vor allem blechbläser-) und schlagwerklastigen Klanges. Das Forte der Pittsburgher war unangenehm scharf und laut.

Die "Rusalkasuite" (nach Antonín Dvořáks Oper) war recht originell, doch die Lieder aus "Des Knaben Wunderhorn" mit Matthias Görne waren der Höhepunkt des Abends. Bei den Mahler-Liedern war die Orchesterbegleitung recht gut, was man von Beethovens 7. Symphonie nicht behaupten kann man - hier schöpften Honeck und das Orchester aus dem vollen und "exekutierten" das phantastische Werk mit Brachialgewalt. Das ist umso tragischer, als Manfred Honeck die Symphonie einst selbst mit Bernstein und Carlos Kleiber spielte; also sollte er eigentlich wissen, wie sie zu klingen hat. Die pseudomäßige "historische Informiertheit" nimmt ihm sowieso niemand ab, auch wenn das Trio des Scherzos durch das Pauken- und Bläsercrescendo wie ein derber Landler klingt.

 

Offenbar zum gerechten Ausgleich kam es am Sonntag danach, als die Wiener Philharmoniker Mahlers 6. in a-moll ("Die Tragische") im Auditorium zelebrierten. Am Pult stand diesmal Daniel Harding, der als Assistent Claudio Abbados begann, was man seinen Bewegungen stets ansah und wahrscheinlich immer ansehen wird. War er am Anfang seiner Karriere oft unbeholfen und fast eine "bad copy" seines Mentors, so hat er sich mittlerweile zu einem wahrhaften Stardirigenten herausgemausert.

Die Philharmoniker spielen Anfang September regelmäßig beim Luzerner Festival und auch bei den London Proms und nützen daher die Konzerte in Wien und Umgebung als eine Art "Generalprobe" für diese Auftritte. Ihr Konzert in Grafenegg war geradezu fulminant - toll, wie Harding die Hundertschaft an Musikern zu Höchstleistungen anspornte und in Mahlers Klangwelt eintauchte. Gespielt wurde die Fassung, in der der zweite mit dem dritten Satz getauscht wurde und die Mahler angeblich immer selbst so dirigierte. In der Urfassung (die auch Bernstein so spielen ließ) kommt das Scherzo gleich anschließend an den ersten Satz. Was für diese Reihenfolge spricht, ist die Tonart a-moll des Scherzos - die Tonart des ersten Satzes.

Man kann guten Gewissens sagen, daß dieses Konzert in die Annalen der Grafenegger Aufführungen eingehen wird; eine solche Konstellation von Dirigent und Orchester in Höchstform erlebt man (leider) selten.

Interessant ist wiederum, wenn ein Konzert eine Rückschau in die Vergangenheit bietet. Als am 30. Juni 2012 ein 21jähriger und damals unbekannter Pianist das Publikum verzauberte, ahnte noch niemand, daß man den jungen Mann genau fünf Jahre später als echten Weltstar wiedersehen würde.

War sein Vorname im Programm damals noch Daniel, so ist er mittlerweile zu einem Daniil mutiert. Der heute 26jährige spielte das berühmte C-moll-Konzert von Rachmaninow mit dem Können und der Weisheit und der Musikalität eines 80jährigen. Gemeinsam mit Valery Gergiev und den Münchner Philharmonikern führte das Tastengenie das Publikum in wahrhaft höhere Sphären. Hier wurde endlich wieder von einem Pianisten demonstriert, was ein "singendes Pianissimo" ist.

Gergiev ist und war nicht nur ein unnachahmlicher Begleiter; bei der 4. Symphonie des Oberösterreichers Anton Bruckner ließ der großartige Maestro das Werk auch ohne Schwulst und Pathos hören, dafür mit umso mehr Liebe zum Detail und zur Phrasierung. Schon das Trio des Scherzos im feinsten Landlerstil war den Besuch des Konzerts wert.

 

Die Grafenegg-Saison 2017 ging für den Verfasser dieser Zeilen mit dem ersten Konzert des London Symphony Orchestra im Wolkenturm zu Ende - neben dem Gergiev-Konzert eines der Highlights des Jahres.

Unter Semyon Bychkov brachten die Briten mit der großartigen Solistin Janine Jansen das (allzu) selten gespielte Violinkonzert von Benjamin Britten und die (allzu) oft gespielte fünfte Symphonie von Gustav Mahler.

Brittens Violinkonzert ist ein Solitär der Spätromantik-Frühmoderne und eigentlich in der ganzen Sololiteratur für Violine überhaupt. Das Stück beginnt schon "schräg" mit einem Paukensolo und geht in einer betörenden Mischung von Kammermusik und vollem Orchesterklang weiter. Die Violine spielt fast immer in den obersten Registern und sehr oft im Flageolett und trumpft mit höchsten technischen Anforderungen auf. Jansen steht zu Recht an der Weltspitze ihres Fachs; mit ihrer Stradivari konnte sie ihr ganzes Können und vor allem ihre große Musikalität demonstrieren.

Nach der Pause wurde die Fünfte Mahler zelebriert, die mit dem signifikanten Trompetensolo den Trauermarsch eröffnet. Bychkov ging bewußt das Risiko ein, eine der meistgespielten Symphonien des Österreichers zu bringen. Und das Risiko hat sich mehr als gelohnt - es war eine der schönsten Aufführungen seit langem. Gerade im Trauermarsch setzte der Maestro gekonnt die Kontraste, wenn bewegte und bewegende Stellen durch sanfte Passagen abgelöst wurden. Selten noch hat man so transparent alle Stimmen in diesem Werk gehört - und selbst das allzu oft malträtierte "Adagietto" (4. Satz) geriet zum Ereignis.

Mit diesem Konzert ging eine wunderbare Saison zu Ende, die große Vorfreude auf das Jahr 2018 macht.

Herbert Hiess

St. Petersburger Philharmoniker

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Konzert im Wolkenturm

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Werke von Nikolai Rimski-Korsakow, Sergei Prokofiew und Modest Mussorgski

 

Solist: Nikolai Luganski, Klavier

 

St. Petersburger Philharmoniker/Yuri Temirkanow

 

Orchesterkonzert am 20. August 2017 im Wolkenturm/Grafenegg

Links:

Shanghai Symphony Orchestra

ØØ 1/2

Konzert im Wolkenturm

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Werke von Aaron Avshalomov und Peter i. Tschaikowski

 

Solist: Maxim Vengerov, Violine

Shanghai Symphony Orchestra/Long Yu

 

Orchesterkonzert am 24. August 2017 im Wolkenturm/Grafenegg

Links:

Tschechische Philharmonie

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Konzert im Wolkenturm

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Werke von Antonín Dvořák

 

Solist: Truls Mørk


Tschechische Philharmonie/Tomas Netopil

 

Orchesterkonzert am 25. August 2017 im Wolkenturm/Grafenegg

Links:

Niederösterreichisches Tonkünstler-Orchester

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Konzert im Wolkenturm

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Werke von Carl Maria von Weber, Alban Berg und Richard Strauss

 

Solistin: Marlis Petersen, Sopran

 

Tonkünstler-Orchester Niederösterreich/Yutaka Sado

 

Konzert am 26. August 2017 im Wolkenturm

Links:

Tschechische Philharmonie

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Konzert im Auditorium

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Werke von W. A. Mozart und Richard Strauss

 

Diana Damrau, Sopran

 

Tschechische Philharmonie/Tomáš Netopil

 

Konzert im Auditorium/Grafenegg am 27. August 2017

 

Photo: Rebecca Fay

Links:

Pittsburgh Symphony Orchestra

ØØ

Konzert im Auditorium

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Werke von Antonín Dvořák, Gustav Mahler und Ludwig van Beethoven

 

Solist: Matthias Görne, Bariton

 

Pittsburgh Symphony Orchestra/Manfred Honeck

 

Konzert im Auditorium/Grafenegg am 31. August 2017

Links:

Wiener Philharmoniker

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Konzert im Auditorium

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Gustav Mahler: Symphonie Nr. 6 in a-moll

 

Wiener Philharmoniker/Daniel Harding

 

Konzert am 3. September 2017 im Auditorium

Links:

Münchner Philharmoniker

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Konzert im Wolkenturm

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Sergej Rachmaninow: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 in c-moll op. 18

Anton Bruckner: 4. Symphonie in Es-Dur "Romantische"

 

Daniil Trifonov, Klavier

Münchner Philharmoniker/Valery Gergiev

 

Konzert am 7. September 2017 im Wolkenturm

Links:

London Symphony Orchestra

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Konzert im Wolkenturm

Leserbewertung: (bewerten)

Werke von Benjamin Britten und Gustav Mahler

 

Janine Jansen, Violine

 

London Symphony Orchestra/Semyon Bychkov

 

Konzert am 9. September 2017 im Wolkenturm

 

Photo: Chris Christodoulou

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