Musik_Bola - Shapes

Hypnotischer Symbolismus

Aufgrund massiver Nachfrage wird diese Rarität auf CD neu veröffentlicht. Bolas legendäres Album erblickt - mit drei Bonustracks - endlich wieder das Licht der Elektronikwelt.    18.01.2007

Vor genau zehn Jahren ließ das in Manchester beheimatete Kultlabel skam ein auf 300 Kopien limitiertes Triple-12inch-Set des aufstrebenden Elektronikkünstlers Darrel Fitton pressen. Dessen Alter ego Bola steht seit seiner ersten LP "Soup" ganz hoch in der Gunst jedes Elektronica-Enthusiasten. Das coverlose Maxi-Set "Shapes" war natürlich innerhalb weniger Tage vergriffen. Seit damals tauchen ab und zu ein paar mehr oder weniger stark abgespielte Exemplare auf Auktionsplattformen auf.

Da die Preise für den Tonträger immer wieder in schier unglaubliche Höhen steigen, rankt sich um diese Scheiben manch abenteuerliche Geschichte. Da ist zunächst einmal die Tatsache, daß auf "Shapes" keine Tracklist zu finden war. Die Label-Etiketten waren unbeschriftet, stattdessen zierte jeweils eine geometrische Form jede einzelne Seite (jeden einzelnen Track). Drei mal zwei macht sechs - und so müßte der nun vorliegende CD-Re-Release auch mit sechs Tracks auskommen. Es sind aber neun.

Auch auf der CD sucht man eine Tracklist vergeblich. Stattdessen sind wiederum die Symbole angeführt. Der erste Track heißt also "Flower", der zweite "Square", andere "Oval", "Pentagon", "Octagon" etc. Wer das antike und überaus wertvolle Triple-12inch-Set sein eigen nennt, wird wohl in der Zwischenzeit die Gravuren in der Leerrille entschlüsselt haben. Dort verstecken sich (für Insider lesbar) die Tracknamen.

Schon seit langem gibt es unter Elektronikmusikern eine Theorie, die besagt, daß letzten Endes Titel für abstrakte Kompositionen völlig nutzlos seien. Zu den Diskutanten zählen Genre-Größen wie Autechre oder Angehörige der Clicks-&-Cuts-Community. Sicherlich könnte man auf Tracknamen wie "Jynweythek" (Aphex Twin), "tascel_7" (Arovane) oder "ül" (Bannlust) verzichten. Und natürlich gibt es auch Avantgardekünstler, die gemäß dieser Theorie auf deskriptive Titel gänzlich verzichten. Ganz oben auf dieser Liste steht Ryoji Ikeda, der seine ultra-abstrakten Klangminiaturen gern mit Punkten und Minuszeichen statt einem Namen versieht.

Kenner der klassischen Musik werden sich über solche Theorien gar nicht wundern. In der ernsten Musik ist es schon seit jeher Usus, ausschließlich die Form und die Tonart bzw. das Tempo der Komposition zu beschreiben. So heißen die Stücke eben "Rondo in f-dur", "Menuetto allegretto" oder "Fuge in B-Moll". Manchmal, bei ganz besonderen oder besonders beliebten Stücken, wird auch ein Spitzname dazugefügt. Das berühmte "Forellenquintett" Schuberts steht für diese Praktik Pate.

Ob Darrell Fitton weiland veranlaßt hat, dennoch Tracknamen in die Leerrillen gravieren zu lassen oder die Jungs vom Preßwerk die Entscheidung getroffen haben, bleibt im Dunkeln. Aber keine Angst! Zuletzt geht doch alles mit rechten (Copyright)-Dingen zu. Hier nun die komplette Tracklist von "Shapes":

 

1.) Fonk [flower]

2.) Pula Kappas [square]

3.) Ballast [triangle]

4.) Zephyr [pentagon]

5.) Clockjerk [trapezoid]

6.) Forcasa2.2 [oval]

7.) Serge2 [octagon]

8.) Cobalt [scope]

9.) Squib [nuclear]

 

Das Cover von "Shapes" ist leider äußerst spartanisch geraten. Michael Englands geniale Biomechanik-Photocollagen, die bisher sämtliche Bola-Alben schmückten, fehlen sehr.

Hört man sich die Tracks der Reihe nach an, kann man das Entstehungsdatum leicht erahnen, fließen doch viele Stilelemente bekannter IDM-Größen in Bolas Songs ein. "Fonk" erinnert aufgrund seiner schwebenden Drones und der versetzten Techno-Artefakte sofort an "Texturology" von Beaumont Hannant, "Pula Kappas" mit seinen stetig nach unten ziehenden Harmonien und dem pulsierenden Hypnobeats könnte wiederum von einer gemeinsamen Session mit Autechre stammen (abgehalten zur selben Zeit, als "Amber" entstand). Daß Darrell zum engeren Bekanntenkreis von Sean und Rob alias Autechre zählt, ist spätestens seit seinem Mitwirken auf der "Gescom EP" (skam ska 002) kein Geheimnis mehr. Der Schluß liegt nahe, daß hier vielfach musikalisch-elektronische Sound-Tricks getauscht wurden.

Doch Bola geht in seinen episch angelegten Kompositionen weiter als Autechre. Er schafft seine eigene hermetisch-harmonische Ambient-Welt, setzt weniger auf Beats als vielmehr auf ästhetische Klangkaskaden, die sich gelegentlich wie subkutane Mantras in das Ohr des Hörers schmeicheln. Und er hat Zeit. Viel Zeit und unermeßliche Geduld, um seine kristallinen oder bionischen Gebilde gemächlich wachsen zu lassen und mit immer mehr Zacken oder Ästen anzureichern. Die auf der CD versammelten ursprünglichen "Shapes" zählen aufgrund ihrer frühen Entstehung mit Sicherheit zu den wichtigsten und voll dunkler Schönheit gestrickten Bola-Tracks.

Der Vollständigkeit halber sei auch noch verraten, woher die Bonusnummern stammen. "Fonk" erschien einst als "Faint" auf der längst vergessenen Compilation "a murder in the company of vespertine" (Vespertine Records, 2000). Der einzige richtig maschinelle Track der CD, "Cobalt", war auch schon auf dem "skampler 7" (skam, 1997) zu hören. "Squib" kann keinem veröffentlichten Tonträger zugeordnet werden und ist somit ein unveröffentlichter Track. Ob er brandneu ist oder aus dem Archiv stammt, läßt sich nur vermuten. Er scheint aber neueren Datums zu sein, da "Squib" noch genüßlich-ruhiger und komplexer aufbereitet scheint als der Rest und überdies mehr Surround-Drones bereithält.

Zur Frage nach der Aktualität des Materials läßt sich festhalten: Einerseits wirkt "Shapes" wie eine Reise mit der Zeitmaschine zurück in die "Good Old Days", als einige Sound-Tüftler in Manchester und Sheffield sich gegen das lieblose Beat-Dogma des Techno auflehnten, um eine Klangwelt zu erschaffen, die noch nie zuvor ein menschliches Ohr gehört hatte. Auf der anderen Seite stellt man überrascht fest, daß Musik im Stil der Artificial Inteligence oder IDM ungebrochen aktuell klingt und somit Bestand hat.

Kein Wunder: Viel hat sich in der elektronischen Musik seit damals nicht getan. Computer ersetzten langsam Sampler, das Mastering wurde signifikant besser, aber: Eine Sinuskurve bleibt eine Sinuskurve.

Ernst Meyer

Bola - Shapes

ØØØØØ


skam (GB 2006)

 

Links:

Kommentare_

Musik
The Notwist - The Devil, You + Me

Weilheim revisited

Das Wiedersehen mit Bayerns Besten gerät auf deren sechstem Album zu einer sanften und melancholischen Reise ins Innere.  

Musik
The Orb - The Dream

Japanische Träumereien

Die Ambient-Dub-Veteranen geben ein starkes Lebenszeichen von sich. Ihr vor einem Jahr exklusiv für den japanischen Markt erschienenes Album ist nun weltweit erhältlich.  

Musik
Portishead - Third

Scratch is dead

Das mehr als zehn Jahre erwartete dritte Album des nach einer englischen Hafenstadt benannten Trios bietet alles mögliche - nur nicht das, was sich der ausgehungerte Fan erwartet hat ...  

Musik
Nine Inch Nails - Ghosts I-IV

Die Stunde der Geister

Trent Reznors neues Werk besteht aus 36 Instrumental-Songs, die über das Internet vertrieben werden. Trotz fehlenden Gesangs hört man deutlich, wer da an den Reglern saß.  

Stories
Bauhaus - Geschichte eines Stils

Vampire leben länger

Die Gründerväter des Gothic-Rock präsentieren nach 25 Jahren Pause ihr fünftes Studioalbum "Go Away White". Ernst Meyer begibt sich zu diesem Anlaß auf Zeitreise.
 

Musik
Autechre - Quaristice

Popsongs für Synapsen

Zwischenstation Zugänglichkeit? Der neunte Longplayer der Herren Booth und Brown ist in 20 Sound-Miniaturen gegliedert, die man guten Gewissens Popsongs nennen könnte. Na ja, zumindest fast ...