Musik_Bergs "Wozzeck" und eine Beethoven-Entdeckung

Tod in der Mondnacht

Als zweite Produktion 2017/18 brachte das Theater an der Wien Alban Bergs Gesellschaftsdrama nach Georg Büchners "Woyzeck" auf die Bühne - in einer an sich hervorragenden Inszenierung und musikalischen Umsetzung. Doch mitten in der Aufführungsreihe bewies der unschlagbare René Jacobs wieder einmal, daß die "Nicht-Inszenierung" einer Oper noch weit eindrucksvoller und berührender sein kann.    13.11.2017

Georg Büchners Dramenfragment "Woyzeck" hält einer üblen und verlogenen Gesellschaft und ihrer Doppelmoral einen entlarvenden Spiegel vor. Das Stück ist eine Parabel über den seelisch und körperlich mißhandelten Woyzeck (Wozzeck), seine Gefährtin Marie und das "System" (Hauptmann, Tambourmajor, Gesellschaft). Wozzeck, den es als "Woyzeck" tatsächlich gegeben hat, war offenbar ein anstaltsbetreuter geisteskranker Straftäter, der in Leipzig hingerichtet wurde.

Die aktuelle Produktion der Opernfassung des Stücks, die im Theater an der Wien gegeben wurde, inszenierte der kanadische Regieprofi Robert Carsen. Seine Inszenierung im zeitlosen Camouflage-Look wirkte hinsichtlich Personenführung und szenischer Zusammenhänge zwar auf den ersten Blick eindrucksvoll, hinterließ aber trotzdem eine Leere. Im Gegensatz dazu bleibt die Aufführung der Festwochen 2010 unvergessen, bei der Stéphane Braunschweig das Drama präzise und emotionell miterleben ließ, bis heute unvergessen.

Musikalisch war die aktuelle Produktion recht interessant, auch wenn sie kein "Meilenstein" war. Florian Bösch und Lise Lindstrom agierten als mitreißend singendes und agierendes Titelhelden-Paar, Stefan Cerny - ein großes Zukunftstalent - als sonorer und zynischer Doktor, und John Daszak gab einen bemerkenswerten Hauptmann. Die restliche Besetzung war einheitlich gut. 

 

Dafür war die konzertante Aufführung von Beethovens "Leonore" aus dem Jahre 1805 im selben Haus ein unvergeßliches Erlebnis. René Jacobs brachte sie mit den Freiburger Barocksolisten und der absolut superben Zürcher Sing-Akademie (da hat der Schoenberg-Chor seine Meister gefunden!) im Rahmen einer kleineren Europatournee auf die Bühne.

 

 

Daß die Premiere im Theater an der Wien - also am Uraufführungsort - stattfand, war nur stilgerecht. Nach dem Musikgenuß war man sehr geneigt, René Jacobs Recht zu geben, wenn er im Programmheft schreibt, daß er diese Fassung für Beethovens beste Ausgabe seiner Oper hält. Das fängt schon mit der Ouvertüre an, die Musikkennern als "Leonore II" bekannt ist und setzt sich mit allen geöffneten Strichen fort. Diese Version ist außerdem dreiaktig, wobei der große Wechsel auch hier vor Florestans Auftritt stattfindet. Wenn man sich den ansonsten aufgeführten "Fidelio" in Erinnerung rief, merkte man erst nach Jacobs Aufführung, was für (musikalische) Goldstücke da vorhanden sind. Besonders beeindruckend waren das Duett Leonore-Marzelline mit Violin- und Cellosolo oder Pizarros Finalarie des ersten Aktes.

Jacobs zauberte mit seinen Freiburger Barocksolisten (auf Originalinstrumenten) ein unvergeßliches Opernerlebnis, das durch so großartige Persönlichkeiten wie Marlis Petersen und Maximilian Schmitt gekrönt wurde. Von ähnlicher Qualität waren sämtliche übrigen Protagonisten und der unvergleichliche Chor der Zürcher Sing-Akademie.

Am Podium und im Orchestergraben waren Mikrophone zu sehen, die angeblich für eine Archivaufzeichnung genutzt werden sollten. An dieser Stelle würde man Herrn Jacobs herzlichst bitten, die Aufnahme als Tonträger zu veröffentlichen, damit mehr Menschen die Chance haben, sie zu hören.

Herbert Hiess

Alban Berg: Wozzeck

ØØØØ 1/2

Oper in drei Akten

Leserbewertung: (bewerten)

Solisten: Florian Boesch, Lise Lindstrom u. a.

 

Regie: Robert Carsen

 

Arnold Schoenberg Chor

Wiener Symphoniker/Leo Hussain

 

Theater an der Wien

 

Premiere: 15. Oktober 2017

Reprisen: 17., 19., 21., 23. und 27. Oktober 2017

 

(Photos: Werner Kmetitsch)

Links:

Ludwig van Beethoven: Leonore (1805)

ØØØØØ

Oper in drei Akten

Leserbewertung: (bewerten)

Solisten: Marlis Petersen, Maximilian Schmitt, Johannes Weisser u. a.

 

Zürcher Sing-Akademie

Freiburger Barockorchester/René Jacobs

 

konzertante Aufführung am 24. Oktober 2017 im Theater an der Wien

Links:

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