Akzente_Urlaubs-Konzertbetrachtung: Grafenegg 2009

Ohne Applaus zum Büffet

EVOLVER-Klassikexperte Herbert Hiess besuchte auch heuer wieder vier Konzerte und erfreute sich trotz gelegentlichen Schlechtwetters an den Darbietungen im Auditorium. Künstlerisch bot das Programm höchstes Niveau - was man vom Publikum leider nicht sagen konnte.    17.09.2009

Grafenegg hat sich im dritten Jahr seines Bestehens zu einem der beliebtesten und künstlerisch auch besten Festivals in ganz Österreich entwickelt. Klarerweise kann heute kein Veranstalter ohne Sponsoring auskommen, und Grafenegg bietet sich dank der politischen Interessenslagen als Wunschziel vieler Sponsoren an. Die edlen Spender geben natürlich gern Eintrittskarten für die Konzerte an ihre Kunden weiter. Und so hat man eben manchmal den Eindruck, daß besagte Besucher eher auf die Pause warten, in der "Toni" Mörwald persönlich Wein ausschenkt, als den Künstlern mit Applaus für ihre großartigen Leistungen zu danken. Da kommt es dann schon vor, daß Sir Colin Davis für eine fulminante 5. Sibelius von diesem Publikum so spärlichen Applaus erhält, daß er das Orchester schon nach der dritten Verbeugung hinaussschickt. Eine mehr als heftige Brüskierung ...

 

Dafür waren alle gehörten Konzerte gleichermaßen großartig - angefangen mit der Darbietung des Philharmonia Orchestra London, einem der großartigen Traditionsensembles der britischen Hauptstadt. Mit seinem finnischen Leiter Esa-Pekka Salonen brillierte das Orchester im Wolkenturm mit dem Idyll "Im Sommerwind" von Anton von Webern und Gustav Mahlers überbordender 6. Symphonie in a-moll. Weberns Idyll ist kein Zwölftonstück, sondern im spätromatischen ("tonalen") Stil gehalten. Das Orchester begeisterte schon da mit einem Klangbad voller Naturtöne und trotzdem einer unübertroffenen Transparenz.

Die Aufführung der Mahlerschen 6. Symphonie war jedoch die wahre Sternstunde. Die "Schicksalssymphonie" des österreichischen Komponisten entstand in Klagenfurt und spiegelt die fast neurotische Todessehnsucht des Klangmalers wider; genial, wie Salonen und sein Orchester das im Konzert umsetzten. Interessant dabei waren auch immer wieder die ewigen Themen Satzreihenfolge und Hammerschläge. Mahler hat die Satzreihenfolge öfters selbst umgedreht; angefangen bei der Uraufführung am 27. Mai 1906 in Essen. Da vertauschte er im letzten Moment das Andante moderato und das Scherzo, wobei dann letzteres als dritter Satz stand. Richtigerweise stand diese Satzfolge auch im Programmheft; Salonen entschied sich aber für die umgekehrte Fassung, die auch passender ist. Nach dem skurrilen Scherzo und dem morbiden Finale bietet das Andante einen echten Ruhepunkt. Die Hammerschläge bedeuten für Mahler die tödlichen Schicksalsschläge; er wechselte selbst von drei auf zwei. Der dritte Hammerschlag gehört zum Finalhauptthema vor der Coda. Salonen ließ diesen Hammerschlag aus; da Mahler diese Praxis selbst sehr flexibel sah, ist das reine Geschmacksache.

Auf jeden Fall boten Salonen und das Londoner Spitzenorchester ein Klangfeuerwerk der Spitzenklasse. Oft hört man im Orchester die Sinopoli-Schule durch (Anm.: Giuseppe Sinopoli war Chefdirigent des Orchesters); Salonen formte mit seinem Impetus daraus eine orchestrale Sternstunde. Es war irgendwie witzig, daß das Freiluftpublikum nach jedem Satz begeistert hineinapplaudierte - so tragisch und traurig kann Musik offenbar gar nicht sein.

 

Eine Woche später verabschiedete sich Kristjan Järvi als Chefdirigent des Niederöstereichischen Tonkünstlerorchesters mit einer hervorragenden Wiedergabe der "Carmina Burana". Carl Orffs Musik mit ihrer zwingenden Rhythmik muß ja sehr oft als Filmmusik für okkulte Szenen etc. herhalten. In Grafenegg hatte man die Gelegenheit, das knapp einstündige Werk in einer großartigen Live-Aufführung zu erleben. Das niederösterreichische Orchester spielte gemeinsam mit dem Tschechischen Philharmonischen Chor Brünn und den Tölzer Sängerknaben. Die Solisten waren zu zwei Drittel österreichisch besetzt, mit Adrian Eröd als fast aufgesetzt wirkendem Bariton und Johannes Chum als hervorragender gebratener Schwan. Die Schönheit der Stimme der Moldawierin Tatjana Lisnic muß jedermann selbst beurteilen; ihr "In Truitina" war eine der edelsten Interpretationen überhaupt. Daß der Spitzenton im "Dulcissime" abstürzte, ist auch anderen schon passiert. Järvis Interpretation war erstklassig, das Hausorchester Grafeneggs und die Chöre brillierten da einfach mit. Nach den Abschiedsworten am Podium war Järvi so im Überschwang, daß er dreimal hintereinander quasi als Zugabe den Schluß ("Were diu werlt alle min") des ersten Teils brachte.

 

Abschließend gaben Colin Davis und das London Symphony Orchestra gleich zweimal "Fünf" - und zwar mit Jean Sibelius hochromantischer Symphonie Nr. 5 in Es-Dur und der fünften Symphonie des Dänen Carl Nielsen (ohne Tonartangabe). Im ersten Konzert brachten die Londoner mit Davis ein reines Mozart-Programm. Nach der ouvertürenartig (ohne Wiederholungen) gespielten "kleinen" C-Dur-Symphonie (KV 338) sang die deutsche Sopranistin Annette Dasch drei Konzertarien des Salzburger Komponisten. Dasch hat eine wunderschöne Stimme, die leider in der Höhe sehr fahl wird, und sie singt noch dazu sehr wortundeutlich. Sir Colin Davis begleitete hochsensibel und äußerst transparent. Beim britischen Maestro hört man Mozart nicht in "Originalklangmanier", sondern auf klassische Art. Ob man das mag oder nicht, muß jeder selbst beurteilen. Jedenfalls war des Maestros Interpretation mehr als beeindruckend. Bei Sibelius war er überhaupt in seinem Element. Schon des Maestros frühe Aufnahmen bewiesen seine Liebe zu dieser Musik; bei der Aufführung in Grafenegg schwelgte er geradezu unheimlich in Sibelius finnischer Klangwelt, sodaß man glauben konnte, die rauschenden Birkenwälder und die Ostsee zu hören. Sibelius 1919 uraufgeführte Symphonie vereinigt Tänze, Kantilenen und teilweise auch Klänge der 1. Symphonie von Johannes Brahms. Sir Colin Davis ist der beste Anwalt des finnischen Komponisten, den man sich vorstellen kann. Daß das Publikum ihn nach drei Verbeugungen abservierte, ist die eigentliche Schande.

 

Das zweite Konzert brachte nach einer spritzigen Wiedergabe der "Figaro"-Ouvertüre ein großartig gespieltes 4. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven. Der polnische Pianist Emanuel Ax interpretierte Beethovens Ausnahmewerk mehr als brillant, während Sir Colin und das britische Orchester mit aller kammermusikalischen Finesse begleiteten. Da sich das Publikum nach diesem großartigen Klavierkonzert mit Applaus gnädiger zeigte, bedankte sich Emanuel Ax mit einem zu Tränen rührenden Nocturne von Frederic Chopin.

Carl Nielsens fünfte Symphonie bildete den triumphalen Schluß dieser großartigen Gastkonzerte. Die Londoner präsentierten das höchst selten gespielte Werk in aller Drastik. Die vordergründig schön klingende Symphonie ist eine echte Antizipation von Dmitri Schostakowitschs Kriegsrythmen. Im ersten Satz kommt kurz nach der harmlos und schön klingenden Einleitung ein brutaler Kriegsmarsch mit den Schlag- und Blasinstrumenten, der dann den ganzen Satz nicht mehr losläßt. Der zweite Satz endet mit einer kurzen feierlichen Coda in Es-Dur, die die Hörer mehr ratlos als sonstwas zurückläßt. Es ist Sir Colin hoch anzurechnen, daß er die Konzerte nicht mit Allerwelts-Symphonien, sondern mit diesen beiden genialen Werken von Sibelius und Nielsen aufs Podium brachte.

Herbert Hiess

Grafenegg 2009

ØØØ 1/2

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Konzert am 23. August

 

Gustav Mahler - Symphonie Nr. 6 a-moll "Tragische"

Anton Webern - "Im Sommerwind" Idyll für großes Orchester

Philharmonia Orchestra London/Esa-Pekka Salonen

 

Konzert am 29. August

 

Carl Orff - "Carmina Burana" für Soli, gemischten Chor, einstimmigen Knabenchor und Orchester

Tonkünstler-Orchester Niederösterreich/Kristjan Järvi

Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn/Petr Fiala (Choreinstudierung)

Tölzer Knabenchor/Gerhard Schmidt-Gaden (Choreinstudierung)

Tatiana Lisnic, Sopran

Johannes Chum, Tenor

Adrian Eröd, Bariton

 

Konzert am 4. September

 

Wolfgang Amadeus Mozart - Symphonie C-Dur KV 338, "Ah, lo previdi" Rezitativ und Arie für Sopran und Orchester KV 272, "Vado, ma dove? - oh Dei!" für Sopran und Orchester KV 583, "Bella mia fiamma" Szene für Sopran und Orchester KV 528

Jean Sibelius - Symphonie Nr. 5 Es-Dur op. 82

London Symphony Orchestra/Sir Colin Davis

Annette Dasch, Sopran

 

Konzert am 5. September

 

Wolfgang Amadeus Mozart - Ouvertüre zur Oper "Le nozze di Figaro" KV 492

Ludwig van Beethoven - Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 G-Dur op. 58

Carl Nielsen - Symphonie Nr. 5 op. 50

London Symphony Orchestra/Sir Colin Davis

Emanuel Ax, Klavier

 

(Photos © Peter Rigaud, J. Henry Fair, Daniel Pasche, Alberto Venzago, unbenannt) 

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