Madness - One Step Beyond
(Union Square Music/Soulfood)
Photos © Nigel Skeet
Ein großer Schritt für den Schreiber, ein kleiner für den Leser: Das "Miststück" wird 200 Kolumnen alt und feiert mit euch einen hoffentlich unterhaltsamen Abschied von EVOLVER. Die "alten" Texte findet ihr auf ewig hier im Archiv – oder im Gesichtsbuch. Dort werden jede Woche fünf Klassiker für euch aufbereitet. Manfred Prescher bedankt sich damit beim geneigten Leser und bei Herrn Felix Austria für die Gastfreundschaft. Und für sechs tolle Jahre. 18.10.2010
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Sag zum Abschied lautstark "Servus" - zu guter Letzt wird hier gleichzeitig zur Eins und zur Null heruntergezählt. Praktischerweise braucht man dazu nur einen einzigen, allerdings gelenkigen Finger. Diese spezielle Ausgabe des "Miststücks" ist den Herren Fichtinger und Hiess - warum kennt eigentlich "Microsoft Word" Peters Nachnamen nicht? - gewidmet, die mit furcht- und fruchtbaren Diskussionen, viel Zutrauen ("Dir wird nach fünf Miststücken die Luft ausgehen!") und ganz viel Unterstützung dafür sorgten, daß die Kolumne recht schnell ihre ureigenste Form fand.
Jungs, dafür liebe ich euch, und dafür kriegt ihr beide ein letztes Lied gewidmet. Es wird nicht "Gute Nacht, Freunde, es wird Zeit für mich zu gehen/Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette/Und ein letztes Glas im Stehn" sein, obwohl der Song von Reinhard Mey gut passen würde. Aber der Bänkelsänger ist nicht mit dem finalen Countdown kompatibel. So fielen die Würfel, mit denen ich mir die Zeit zwischen den Miststücken normalerweise vertreibe, auf "One Step Beyond" und "Love Minus Zero/No Limit": Jürgen bekommt natürlich Madness und - weil die Axt im Hause Hiess den Zimmermann nicht unbedingt immer erspart - Bob Dylan. Ihr könnt bei Bedarf tauschen, was vielleicht hilft, die Kommunikation untereinander wieder so zu verbessern, wie es sein sollte. Denn wir brauchen euch. Ihr gehört zusammen wie Laurel und Hardy oder Danny Wilde und Lord Brett Sinclair.
Als langjähriger EVOLVER-Autor hat man in einem Ohr einen kleinen Fichtinger, im anderen einen ebenso winzigen Hiess. Die beiden können sich zwar nie einigen, wer das Teufelchen sein darf, sind aber sonst durchaus nützlich. Um es mit Kapitel 9 des Buches Jesaja auszudrücken: "Die Herrschaft liegt auf ihren Schultern/Man nennt sie: Wunderbare Ratgeber." Die eilige Zweifaltigkeit hat stets dafür gesorgt, daß bei EVOLVER im allgemeinen und der Kolumne 200 mal im speziellen alles gut ward. Leichen pflasterten ihren Weg, sie gingen den Weg durch die Todeskammern der Shaolin, aber sie hatten immer ein Ziel vor Augen. Mit vielen Texten, darunter sicher auch ein paar Miststücken, haben sie es erreicht: "Das Volk, das im Dunkeln lebt/Sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen/Strahlt ein Licht auf."
Deshalb diese Lieder für zwei sehr integre, intelligente Individuen. Die beiden Songs haben freilich überhaupt nichts gemeinsam. Würde man aber beide Texte gleichmäßig auf zwei Stücke verteilen, kämen die Lyrics für zwei handelsübliche Popsongs heraus, wobei jetzt nicht Eminem-Hits gemeint sind. Madness’ Beinahe-Instrumental aus dem Jahr 1979 kommt mit ganzen 33 Worten aus - und die sind ziemlich legendär: "Hey you, don’t watch that/Watch this/This is the heavy heavy monster sound etc. pp." Bei Dylans Tribut an seine spätere, schräg-religiöse Ehefrau Sara Lowndes sind es immerhin 178. Addiert und durch zwei geteilt sind es 105 Worte, was ungefähr Kraftwerks "Model" entspricht.
Für Dylans Verhältnisse ist "Love Minus Zero" ein eher wortkarges Statement, aber doch eloquent genug, die Vielschichtigkeit seiner Liebsten in Gegensätzen zu dokumentieren. Man könnte auch mutmaßen, daß sie zumindest geistig nicht ganz koscher war: "My love speaks like silence/Without ideals or violence". Rückblickend muß man konstatieren, daß die Beziehung zwangsläufig in die Binsen gehen mußte, aber immerhin waren Dylan und Sara von 1965 bis 1977 verheiratet und brachten den gar nicht mal unbegabten Sohn Jakob zustande - trotz der Ehestreitigkeiten, die der Song schon vorwegzunehmen scheint: "She knows too much to argue or to judge", schreibt Bob Dylan d. J. Und irgendwie trifft das mit dem "argue" und dem "judge" schon auch auf Peter Hiess zu, der ein streitbarer Geselle ist, wenn es um die generelle oder prinzipielle Blödheit an sich geht. Ich hoffe zuversichtlich, daß er nie wirklich an den Punkt gelangt, an dem er die tintengetriebene Streitaxt desillusioniert zur Seite legt.
Vielleicht hilft ab und zu ein aufbauender Energiestoß wie die zweite Single des genialen britischen Ska-Pop-Septetts Madness: "One Step Beyond", geschrieben von Hauptsänger Prince Buster, ist ein flotter Hüpfer, fast so wie Jürgen Fichtinger. Elegant, gewitzt und schwungvoll zeigt sich hier, daß der kleine Schritt für die Menschheit oft cooler ist als der große durch den bizarr-öden Mondstaub. "You better start to move your feat/To the rockinest, rock-steady beat/Of Madness", heißt es, aber der Monster-Sound steht so im Vordergrund, daß die Worte zu Schall und Rauch werden.
Es stimmt übrigens, daß der Hit von Dr. Feelgoods 1974er Pub-Rock-Stampfer "Twenty Yards Behind" entlehnt wurde. Ich sage das nur, um noch ein finales Mal naseweis daherzukommen. Prince Buster bediente sich, ohne hinter der Ray-Ban erkennbar mit den Wimpern zu zucken, bei dem anderen Song - und steht so in direkter Verbindung mit Bob Dylan. Denn es ist ja bekannt, daß sich dieser oft und gern in der Asservatenkammer der Folk-, Blues- und Country-Historie nach Brauchbarem umsah.
Ich aber sage euch: Es ist nichts Ehrenrühriges dabei, sich Ideen anderer untertan zu machen. Wer will, kann sich also gern aus den 200 "Miststücken" eigene Kolumnen zusammenbasteln und die im Alkoven aufhängen, das ist nur würdig und recht. Nehmet dies zu meinem Gedächtnis. Wie es mit dem "Miststück" ab Nummer 201 weitergeht, wird in Kürze verraten.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
Madness - One Step Beyond
(Union Square Music/Soulfood)
Photos © Nigel Skeet
Bob Dylan - Bringing It All Back Home
(Sony)
Photo © Jeremy Schatzberg
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Kommentare_
Schluchz! Heul! Traurig! Gemeinheit! Drück mir nur zum Schluß noch den depperten alten Dylan rein, das ändert auch nichts am Abschiedschmerz. So fahre wohl - und danke für die wunderbaren 200 "Miststücke".
der aus dem linken (oder rechten) Ohr
Glückwunsch, Evolver. In der Kolumne wird zusammengeführt, was sicher nicht zusammengehört. Ich habe sehr geschmunzelt.
Gruss aus dem Sauerland
Frank
Zum Abschied nochmal ein echtes Meisterstück. Hoffe bald an anderer Stelle mein gewohntes Montags-Misstück lesen zu können. Bis bald! Jo