Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 79

Wir Sind Helden: "Endlich ein Grund zur Panik"

Wenn das kein Grund zur Freude ist: Endlich wissen wir - Judith Holofernes sei Dank -, daß uns die Angst zu Recht übermannt. Ob das wirklich so tröstlich ist, fragt sich Manfred Prescher.    07.05.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Ich liebe die Art, wie Judith Holofernes dichtet. Wahrscheinlich liegt das daran, daß sie mir eine echte Schwester im Geiste ist. Völlig verschwurbelt gehen wir beim Dichten zu Werke. Manch einer findet daher keinen Zugang zu diesem Kosmos und tut sich schwer, die Texte zu verstehen. Beim Zu-Papier-Bringen wird ja viel weggelassen, auch Sinnbausteine des Gesamtzusammenhangs, wodurch ein echtes Deutungs-Biotop entsteht.

Beschäftigungszwang in Reinkultur: Die Worte klingen schön und auch einladend vertraut, sind bei näherer Betrachtung allerdings kryptisch. Man muß den Zuhörer freilich nicht mit dem Vorschlaghammer zur richtigen Textanalyse prügeln. Ein wenig Nachdenken hat noch keinem geschadet: "Endlich ein Zuhause/Für alles Unerklärte/Endlich ein Grund/Los, jagen wir die bewährten Werte/Endlich die Diagnose für den Verlauf/Sag bloß/Endlich ein Grund zur Panik/Augen auf, schlag los!"

Wie immer, wenn der Poet oder die Poetin aus Rudimenten Verse schmiedet, spötteln Kritikaster, daß es nur um die Aneinanderreihung schöner Worte gehe. Aber selbst wenn das so wäre und es rein gar nichts zu verstehen gäbe, dann wäre dieses rund um einen in feinstem Collie-Deutsch dahingebellten Refrain drapierte Gedicht immer noch besser als so mancher idiosynkratisch überfrachtete Text, der sich an die sensibleren Gemüter im Lande wendet. Statt "Jetzt müssen wir streiken/keiner weiß wie lang/ja für ein Leben ohne Zwang", heißt es nun "Endlich ein Tunnel für deinen Blick/Endlich ein Baum ein Strick und dein Genick".

Wir leben in finsteren Zeiten, ein Aufbruch in eine bessere Welt ist nicht mehr möglich. Also sagt uns Judith Holofernes, daß unser vages Gefühl der Panik, dieser nicht identifizierbare Dauerangstzustand, der uns seit ewig und drei Tagen umfaßt, völlig zu Recht Besitz von uns ergriffen hat.

 

Auf ihrem Debütalbum gaben Wir Sind Helden zu Protokoll, daß sie da seien, um die "anderen Helden abzumelden"; auf der Nachfolge-CD waren die Heroen schließlich "gekommen, um zu bleiben" - und jetzt turnen sie im Video zu "Endlich ein Grund zur Panik" in einem aus Comic-Kunst und Fifties-Trash zusammengesetzten Streifen im Heldenkostüm durch ein düsteres Szenario. Dort trifft der Superman-Strampler auf die während der Epoche des Gelsenkirchener Barocks beliebte Stehbrunzhose, treffen prähistorische Atompilze auf wachsendes Unwohlsein über die unbegrenzten Möglichkeiten. "Endlich ein Grund, los spring!/Zurück auf die Bäume!" fordern Judith und ihre drei Mitstreiter. Ob sie uns dabei helfen wollen, sagen sie nicht. Vielleicht schaffen wir es mit ihrer Unterstützung, daß wir rechtzeitig vor der finalen Katastrophe, die zwischen den vielen Zeilen dieses Liedes hervorspitzt, den Strick finden, der dem Ganzen ein schnelles Ende bereitet.

Passend dazu ist der Song angelegt wie ein heißer Tanz auf dem Vulkan. Der Abgrund tut sich links und rechts des Kraters auf und droht beim kleinsten Fehltritt alles in seinen dunklen Höllenschlund zu ziehen. Judith singt dazu fast schon hysterisch und in deutlich höherer Stimmlage als sonst. Gleichzeitig gibt sie sich noch eine Spur herrischer. Jeder Satz trägt ein Ausrufezeichen, ist ein Befehl an die Rat- und Tatlosen, wirkt wie ein letzter Energiestoß vor dem Infarkt. Oder vor der Kapitulation. Den Nachnamen "Holofernes" trägt Judith übrigens auch zu Recht: Der Namensgeber war ein einflußreicher General im Militär des assyrischen Königs Nebukadnezar II. und zur damaligen Zeit berüchtigt für seine brutalen Raubzüge.

Zumindest steht das so in der Bibel, genauer: im "Buch Judit". Und das gilt, selbst bei Menschen, die den restlichen Inhalt des Buches der Bücher für bare Münze und faktisch bewiesen halten und an die real existierende unbefleckte Empfängnis glauben, als Fiktion; ein Stück Weltliteratur, von vorne bis hinten erstunken und erlogen - aber mit der Verve, die auch Judith H. auszeichnet. Vielleicht ist "Endlich ein Grund Zur Panik" auch nur erfunden? Und die Welt eigentlich ein schöner Ort, an dem wir sicher sind wie in Abrahams Wurstkessel? Nein, natürlich nicht. Judith Holofernes hat schon Recht und wir definitiv Grund zur Panik. Aber das hat der passionierte Defätist ohnehin schon seit langem vermutet. Deshalb wird dieser rasante Veitstanz auch zu seiner Hymne werden.

Wie weit oben Wir Sind Helden damit tatsächlich in den Charts rangieren werden, hängt natürlich von der Menge der Schwarzseher ab. Davon gibt es allerdings mehr als genug - sie wächst schneller als der Ausstoß an Kohlendioxid. Im Gegensatz dazu ist der Einfluß der Negativisten auf das Erdklima noch nicht hinreichend erforscht. So könnte es natürlich sein, daß sie stärker zur Klimakatastrophe beitragen als der Rest der Menschheit. Oder es verhält sich genau umgekehrt: Irrungen und Wirrungen, wohin das Auge blickt und wohin das Ohr hört. Im Zentrum eines Orkans aus kreisenden Damoklesschwertern in Fragezeichenform steht Judith Holofernes und rezitiert mit eingebautem Dauer-Looping in der Stimme in ihrem künstlerischen Verschlüsselungsverfahren entstandene Zeilen von kürzelhafter Konsistenz. Das Ergebnis klingt wie das Gebet einer Weltuntergangssekte.

"Endlich ein Grund zur Panik!" repetiert die Hohepriesterin. Die Gemeinde wird ihr "Ja, ja, ja!" entgegenschmettern - und ihr zu Füßen knien. Nachgerade würdig und recht wäre das.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Wir Sind Helden - Soundso


EMI (D 2007)

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