Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 81

Vienna Scientists V: "Scheckter - Some Kind Of Moanin´"

Weihnachten steht vor der Tür, und zu diesem Anlaß bescheren uns die Wiener Sound-Wissenschaftler eine neue Compilation. Mit der kann man sich getrost auf ausgiebige Reisen in ferne Klangwelten begeben - findet Manfred Prescher.    21.12.2009

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Manchmal ist es schon echt blöd, ein Deutscher zu sein. Und das liegt nicht nur daran, daß wir angeblich einen Bassett Hound zur Bundeskanzlerin gewählt haben (selber schuld, kann man da nur sagen). Oder daran, daß sich bayerische Politiker im ureigenen "Mir-san-mir"-Stil von einem wesensverwandten Kärntner Möchtegern-Gröfaz übers Ohr hauen ließen. Nein, die bundesdeutsche Nationalität bereut man eher der Vienna Scientists wegen, die den Fans aus Piefkeland die CD-Veröffentlichung ihrer fünften Compilation noch eine Weile vorenthalten.

Gut hat es der, der ein Care-Paket von seinem Freund Felix Austria bekommen hat, mit vor Erregung zitternden Fingern das Packerl aufreißt und dann den heiligen Moment genießen darf, in dem die ersten Töne der klingenden Jubiläumsfeierlichkeit aus den Lautsprechern fließen. Ein magischer Zeitpunkt von schier überirdischer Größe, fürwahr.

 

Die Vienna Scientists im EVOLVER zu beschreiben hieße das Riesenrad abzubauen, wegzuschleppen und es dann wieder, mit hübschen Beipackzetteln zur Historie an den Gondeltüren, zurück in den Prater zu transportieren. Von meiner deutschen Warte aus ist hauptsächlich das Label sichtbar - und das bietet mit jeder neuen Zusammenstellung den Einstieg in eine Welt, die abseitig genug ist, um jede Sellout-Hysterie zu vermeiden. Gleichzeitig sind alle Tracks so gut, daß sie leicht Mainstream sein könnten, wenn das gemeine Volk wenigstens in solchen Dingen nicht zu ignorant wäre.

Aber was soll´s - Geschmack hat man oder man hat ihn nicht. Während also immer noch irgendwo vermeintliche Superstars gesucht werden, versammeln die Wiener Wissenschaftler echte Größen. Wer Ohren hat zum Hören und wessen Murmel noch nicht gänzlich abgestumpft ist vom allgemeinen Gedudel, der bekommt jetzt bereits zum fünften Mal die Zugangsberechtigung zu herrlich unterschiedlichen Sounds. Die Anschaffung der bisherigen vier Teile lohnt sich übrigens auch im nachhinein; gemeinsam mit dem aktuellen Sampler ergibt sich so nicht nur ein runder Überblick über das Schaffen der Scientists, die CDs sind außerdem Teile eines Gesamtkunstwerks mit hoher Alltagstauglichkeit. Das fängt bei den Artworks an und hört bei der Zusammenstellung der Stücke auf. Vielfältigkeit auf Weltniveau - und doch fast zur Gänze aus einem kleinen Land, das von außen betrachtet immer noch wie von Qualtinger in "Die Unterwelt" besungen wirkt.

 

"Vienna Scientists V" bietet eine ganze Reihe dem Fan bekannter Künstler, von Flaer über Makossa & Megablast, den Innsbrucker Breakbeat-Guru Ed Royal oder Rodney Hunter. Die Sammlung verbindet kernigen P-Funk in bester Parliament-Tradition (Flaers "Dynamic"), das nach Chicago-House klingende "Faith" von Rodney Hunter, den Tribal-Groove des Makossa & Megablast-Hits "Mama" mit Jazz-Dub ("Guy Le Arch" von Boogiewood) und herrlichem Soul wie in "Do It Right" von Mosquito Factory.

Ein absoluter und sehr ungewöhnlicher Höhepunkt wartet am Schluß des Albums. Als Finale haben die Scientists nämlich ein echtes Jazz-Stück von Format ausgesucht. Scheckters "Some Kind Of Moanin´" hat etwas von Miles Davis´ "In A Silent Way", um einmal nicht die üblichen "Lounge"-Phrasen zu verwenden. Das Projekt hinter dem sachte swingenden, relaxten Stück, das leicht aus der hochgenialen Vor-Fusion-Zeit der mittleren und späten 60er Jahre stammen könnte, besteht aus dem Grazer Klavier-Virtuosen Peter "PJ" Josef und dessen Partner Roman Träxler.

Interessanterweise funktioniert der improvisierte Jazz-Track mit seinem warmen Flow im genannten Umfeld perfekt. Und bei näherer Betrachtung ist das auch durchaus logisch, da die Vienna Scientists seit jeher für stilübergreifende Sound-Strukturen stehen. House, HipHop, Dub oder Jazz sind Teil eines komplexen Universums, in dem Stilfragen und damit verbundene Abgrenzungen keine Rolle spielen. Nur so sind solche Compilations in ihrer Vielschichtigkeit erst möglich, und das verlangt vom Hörer auch eine Menge an Offenheit und Neugier. Wer das nicht mitbringt, möge bitteschön bei Dieter Bohlen bleiben. Das sichert dem die Rente und uns immerhin künstlerische Unabhängigkeit. Für Österreicher, die aufgeklärten Menschen eine Freude machen wollen, empfiehlt sich "Vienna Scientists V" hingegen als Weihnachtsgeschenk - mit etwas Glück sogar für musikalisch notleidende Deutsche.

Und damit verabschiedet sich das "Miststück" in die Weihnachtswinterwasweißichferien. Mitte Jänner geht es an dieser Stelle wieder munter weiter. Bis dahin: Macht es gut, bleibt EVOLVER gewogen und laßt euch nicht von Wham! ("Miststück der Woche Pt. 8") einlullen. So, do it right!


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

V/A - Vienna Scientists V

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Vienna Scientists/Hoanzl

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