Kolumnen_Rez gscheid!
Schnaps und Gefühle
Nein, von linguistischen Fehlgeburten bundesdeutscher Provenienz - Marke: "gefühlte Trunkenheit" - ist hier nicht die Rede. Unser Sprachressort leistet nur wieder einmal Hilfestellung: diesmal einem Studenten und einem präsumptiven Westösterreicher.
14.05.2009
"Languages matter!" wußte die UNESCO, als sie das Jahr 2008 zum "International Year of Languages" erklärte. Wir meinen: Ein Jahr ist längst nicht genug. Unser Sprachexperte Dr. Seicherl widmet sich daher weiterhin dem Österreichischen, genauer gesagt: der proletarisch korrekten Sprache im Alltag. Warum? Das erfahren Sie hier.
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Guten Abend Herr Doktor,
ich komme aus Ukraine und arbeite seit verschiedenen Monaten in Wien bei einem Baugewerbe damit ich mein Deutschstudium finanziere.
Mein Vorarbeiter spricht eine sehr merkwürdige Sprache zu mir mit vielen Infinitiven und ist oft wenig freundlich. Heute sagte ein Kollege nachher zu mir etwas welches ich nicht verstand. Er sagte ich soll gehenkommen und der Polier fühlt sich selbst nicht sobald er sich erspürt.
Das war freundlich gemeint von dem Kollegen. Aber ich kann es nicht begreifen. Bitte erklären Sie mir die Aussage wenn Sie die Zeit dazu finden.
Mit freundlichen Grüßen
und vielen Dank
Artem Mykhalchyshyn
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Dr. Seicherl antwortet:
Sehr geehrter Herr Mykhalchyshyn,
ich freue mich über Ihr Interesse und bitte Sie vorab, die Ausdrucksweise jenes Vorgesetzten bei Ihren Studien unberücksichtigt zu lassen. In dem Bemühen, sich Fremden gegenüber verständlich zu machen, bedient der Wiener sich nämlich gemeinhin eines vermeintlich simplifizierenden Idioms, das leider ebenso syntaktisch falsch wie unsinnig ist.
Was den Trost seitens Ihres Kollegen betrifft, vermute ich, daß er Folgendes sagte:
Ge kum, wana se füd gschpiada se nima.
Er wollte Ihnen damit nahelegen, sich die Zurechtweisung nicht zu Herzen zu nehmen, weil besagter Polier damit lediglich seine Machtposition zu unterstreichen gedachte.
Mit freundlichen Grüßen
und den besten Wünschen für ein erfolgreiches Studium
Dr. S
P. S.: Gestatten Sie mir noch die Anmerkung, daß Ihr Nachname linguistisch gesehen interessant ist. Währen Patronyme ja weit verbreitet sind (Herleitung des Namens von jenem des Vaters oder Ehemannes: Eriksson, Gorbatschowa etc.), besteht auch in Ihrem Geburtsland zugleich die Tradition des Metronyms weiter; somit müßte Ihre Mutter, wenn ich nicht irre, mit Nachnamen Mykhalchenko heißen.
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Translation/Gebrauchshinweise:
ge, kum (hier, einzeln oder kombiniert): beruhigender Zuspruch
fün: füllen (meist zusammengesetzt: nochfün, ofün)
se fün: sich (demonstrativ) als überlegen gerieren; wienerische Form der Selbstüberschätzung
gschpian: spüren
se gschpian: Herr seiner Sinne sein ("sich selbst spüren"; meist in negierter Form verwendet)
nima: nicht mehr/wieder
Wohl werden auch im Wienerischen die Imperativformen von "gehen" bzw. "kommen" im eigentlichen Sinne verwendet. Entsprechende Satzmelodie vorausgesetzt, erlangen diese Silben jedoch mannigfaltige Bedeutungen. So kann ge - neben der hier gemeinten Beschwichtigung - auch Ausdruck ungläubigen Staunens sein, oder kum insistierendes Überreden einleiten.
Das hochdeutsche "fühlen" hingegen existiert praktisch nur im obengenannten, spöttischen Zusammenhang; ansonsten redet der Wiener von "spüren" (vgl.: a gschpia hom = über Sensibilität verfügen). Wer sich nima gschpiat, verhält sich unangemessen und tendenziell aggressiv (vgl.: depat im schädl).
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Werter Herr Seicherl,
ich muß oft aus beruflichen Gründen bis nach Wien fahren. Mir ist aufgefallen, daß die Taxifahrer gerne Umwege nehmen, wenn sie meinen Dialekt hören.
Zuletzt redete ich einen darauf an. Da fragte er grob zurück, ob ich vielleicht glaube, daß er mit seinen Kollegen Schnaps trinkt, bis alle mit "der Kirche um ein Kreuz" fahren?
Was sollte diese Frechheit nun heißen? Da sind Ihre Taxifahrer wohl alle betrunken, oder?
Kilian Feurle
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Dr. Seicherl antwortet:
Sehr geehrter Herr Feurle,
es handelt sich offenbar um ein Mißverständnis.
Wahrscheinlich stellte Ihnen der Lenker eine rhetorische Frage:
Glaums vielleicht, ii schnops ma des mit de kolegn aus, daß ma mit da kiachn ums kreiz foan?
Wohl zu Recht wies er damit entrüstet Ihren Verdacht zurück; Wiener Taxis sind nämlich nicht nur zum großen Teil mit Navigationsgeräten ausgestattet, sondern werden auch via GPS kontrolliert. Das gibt Ihnen übrigens jederzeit die Möglichkeit, eine Ihrer Ansicht nach inkorrekte Route später von der jeweiligen Zentrale prüfen zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. S
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Translation/Gebrauchshinweise:
ausschnopsn: vereinbaren (u. U. in nicht dezidiert gesetzestreuer Weise)
mit da kiachn ums kreiz: auf Umwegen
Das altösterreichische Kartenspiel schnopsn (bdt.: "66", nach der zum Gewinn nötigen Punktezahl) verdankt seine Bezeichnung keineswegs hochprozentigen Destillaten, wie manchmal fälschlich behauptet wird - angebliches "Um-Schnaps-spielen" -, sondern der Handbewegung: von "schnappen". (Es wird nur zu zweit, mit 20 Karten gespielt. Könner sind dabei sehr schnell.)
Der sogenannte Kreuzgang wiederum ist seit Jahrhunderten Bestandteil vieler christlicher Umzüge. Hierbei wurde ursprünglich das große Kreuz hinter dem Altar abgenommen und der Prozession vorangetragen, die (auf längerem oder kürzerem Wege) um die Kirche führte. Sinnbildlich für überflüssige Umständlichkeit steht eine theoretische - zu graphisch ähnlichem Resultat führende - Variante, die "Kirche um das Kreuz" zu tragen.
[Anmerkung: Wie tief das Schnapsen samt seinen Regeln hierzulande im Bewußtsein der Bevölkerung verankert ist, zeigt sich an den vielen diesbezüglichen Redewendungen. Die ansog etwa ("20" bzw. "40 ansagen") findet sich in a ansog mochn ( = einen Befehl erteilen/eine Hypothese aufstellen); das "Bummerl" ( = verlorene Partie) kam als Synonym für Unbill gar zu musikalischen Ehren (ana hod ima des bumal). Und die Pechsträhne von sieben in Folge verlorenen Durchgängen (schneidabumal) zitiert, wer einer mißlichen Situation - auch finanzieller Natur - eben glücklich entrinnen konnte, mit den Worten jez bin ii ausn schneida. Die Variante für vier Teilnehmer (die dann paarweise zusammenspielen) wird übrigens "Bauernschnapsen" genannt. Wieweit daraus Rückschlüsse auf eine ausgeprägtere Geselligkeit bei Landmännern zulässig sind, ist bislang ungeklärt.]
Dr. Seicherl
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