Kolumnen_Rez gscheid!
Begnadete Körper
Nicht nur bei einschlägigen "Tanz"-Veranstaltungen ist es für den Außenstehenden oftmals schwer, zwischen Emphase und Agonie zu unterscheiden. Unser Sprachexperte widmet sich diesmal erratischen Kontraktionen - im Wienerischen, selbstverständlich.
09.04.2009
"Languages matter!" wußte die UNESCO, als sie das Jahr 2008 zum "International Year of Languages" erklärte. Wir meinen: Ein Jahr ist längst nicht genug. Unser Sprachexperte Dr. Seicherl widmet sich daher weiterhin dem Österreichischen, genauer gesagt: der proletarisch korrekten Sprache im Alltag. Warum? Das erfahren Sie hier.
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Genosse Seicherl!
Als einfacher Redakteur des Zentralorgans [...] (Anm.: Name und Land der Red. bekannt) muß ich leider feststellen, daß das österreichische Proletariat kaum mehr mit der ehrlichen Sprache unseres antiimperialistischen Kampfes vertraut ist. Du, Genosse, hast Dich der gerechten Sache verschrieben. Sage mir also, wie ich den Arbeiterinnen und Arbeitern dieser sozialistischen Stadt die Freude eines Präsidenten verständlich machen soll, der im Dienste der Werktätigen Kundgebungen beiwohnt. Oder wenn er, wie der heldenhafte Anführer unseres fernen [...] (Anm.: s.o.) Brudervolkes, einen neuerlichen Beweis unseres weltweit unaufhaltsamen technologischen Fortschrittes einweiht.
Freundschaft!
Enrico
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Dr. Seicherl antwortet:
Lieber Herr Enrico,
wenngleich ich gewisse Zweifel hege, ob wir unter "gerecht" das gleiche verstehen, so bin ich Ihnen doch gerne behilflich.
Zur Beschreibung der freudigen Erregung, welche Führer wie die von Ihnen erwähnten bei derlei Anlässen oftmals ergreift, empfehle ich die Wendung:
"do ged eam a achdl ind wäsch."
Ich kann Ihnen versichern, daß dies vom Wiener Proletariat dann schon richtig verstanden wird.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. S
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Translation/Gebrauchshinweise:
achdl: Hohlmaß (0,125l)
wäsch: Textilien, welche mit dem Körper in Berührung kommen (vgl.: betwäsch, untawäsch)
Obwohl die angeführte Flüssigkeitsmenge eher an Inkontinenz denken ließe, ist hier eine - figurativ im Wachzustand auftretende - Pollution gemeint (lat.: "polluere" = besudeln): das gleichnishaft überhöhte Volumen der Ausschüttung illustriert dabei die Intensität des spontanen Orgasmus, der der beschriebenen Person attestiert wird.
(Anmerkung: Die sogenannte Traditionelle Chinesische Medizin definiert eine Akupunkturstelle zur Behandlung unkontrollierter Ejakulationen. Am 67 Punkte beinhaltenden taiyang - dem "Fuß/Blasen-Meridian" - ist die Position b27 zu stechen: der "shu-Punkt des Dünndarms". Die subkutane Stimulation dieser xiaochanghu genannten Stelle soll auch bei Bettnässen sowie allgemeinen Verspannungen des Unterleibs therapeutisch wirksam sein.)
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Sehr geehrter Herr Dr. Seicherl!
Bezüglich "owezara": Als ich weiland noch Freifahrtschein inskribiert hatte (also präakademischer owezara war), schalt mich meine Mutter des öfteren ob meines In-den-Tag-hinein-Lebenswandels und beendete derlei oft mit den Worten: "I kriag no die Frasn mit dir!"
Was mich (der ich nun schon seit längerem kein owezara bin) seit etwa 40 Jahren verfolgt:
Was, bitte, sind Frasn?
Danke im voraus,
herzlichst,
Ihr Ronald Rienößl
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Dr. Seicherl antwortet:
Sehr geehrter Herr Rienößl,
namensgebend ist hier ein laienmedizinischer Sammelbegriff. Als "Frais(en)" bezeichnete man Krampfanfälle bei Kindern, wie sie etwa im Zusammenhang mit Fieber auftreten können.
In Unkenntnis genauerer Ursachen unterschied der Volksmund zwischen bokerl-, schnakerl- und gogerlfras; jedoch wurde all dies offenbar auf traumatische Erlebnisse zurückgeführt (vgl. mhd.: "vreise" = das Erschrecken, ahd.: "freisa" = die Gefahr).
Ihre Frau Mama wollte damit, wie es aussieht, ohnmächtige Verzweiflung angesichts Ihrer Lebensführung zum Ausdruck bringen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. S
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Translation/Gebrauchshinweise:
frasn: Krampf-, Wutanfall
bokerl: Föhrenzapfen; Truthahn
schnakerl: Schluckauf (Zwerchfellkontraktion, lat.: "singultus")
gogerl: (Hühner-)Ei; Testikel
Wer schreiend herumspringt und mit den Extremitäten wedelt, hat möglicherweise die bokerlfras: abgeleitet von "pulyka", der ungarischen Bezeichnung für Truthahn (dem man nachsagt, leicht in Rage zu geraten - etwa angesichts bunter Stoffe oder eines Spiegels, wodurch ihm ein vermeintlicher Nebenbuhler vorgegaukelt wird). Die abgeschwächte Diagnose gogerlfras bezieht sich auf das Verhalten eines Huhns, das eben ein Ei gelegt hat (mit womöglich malträtierten Hodensäcken hat der Begriff also nichts zu tun). Die schnakerlfras wiederum äußert sich in spontanen Zuckungen.
(Anmerkung: Der - abgefallene - Föhrenzapfen verdankt die Bezeichnung bokerl vermutlich dem Umstand, daß er von oben betrachtet gewisse optische Ähnlichkeiten mit dem gespreizten Bürzelschmuck eines Puters aufweist.)
Dr. Seicherl
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