Kolumnen_Rez gscheid!

Kinder

Freuen Sie sich auch so, wenn Gekreische, Getrampel und latente Sachbeschädigung Ihren Alltag auflockern? Oder wenn Sie im Urlaub der Selbstverwirklichung Minderjähriger auf Ritalin-Entzug beiwohnen dürfen? Dann finden Sie in unserem Linguisten den richtigen Ansprechpartner.    06.08.2009

"Languages matter!" wußte die UNESCO, als sie das Jahr 2008 zum "International Year of Languages" erklärte. Wir meinen: Ein Jahr ist längst nicht genug. Unser Sprachexperte Dr. Seicherl widmet sich daher weiterhin dem Österreichischen, genauer gesagt: der proletarisch korrekten Sprache im Alltag. Warum? Das erfahren Sie hier.

 

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Friede und Freude Dir, lieber Seicherl!

Ich habe die Ferien wie immer mit meinem Sohn auf Antiparos verbracht. Er ist ein Indigo-Kind und recht lebhaft. Einmal stieß er in der Taverne beim Herumlaufen an einen Tisch, dass ein Glas umfiel und dem Touristen dort das Bier auf die Hose lief. Da schrie der meinen Sternenschatz an: "Du hörst zurück, gepudert und getrieben!"
Ich habe schon versucht, Kryon zu channeln, aber niemand weiß, was die Worte bedeuten. Meine Sphären schwingen immer ganz unharmonisch, wenn ich daran denke. Kannst Du mir helfen?

Möge die Kraft Deines Kundalini nie erlahmen,
Nancy Pospisil

 

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Dr. Seicherl antwortet:

 

Liebe Nancy,

ich helfe Dir selbstverständlich gerne, Deine Kugeln (Altgriechisch: sphaira) wieder harmonisch schwingen zu lassen. Die Unmutsäußerung jenes Herrn lautete vermutlich:
Du gheast zrukpudat und otribm.
Offenbar war er der Ansicht, daß - um es so auszudrücken - die letzte Reinkarnation Deines Sprößlings auf einem kosmischen Irrtum basiert, der der Korrektur bedarf.

Mit besten Grüßen
Dr. S

 

P.S.: Ich danke Dir für Dein spirituelles Interesse an meiner Schlange. Aber vielleicht solltest Du auch in Erwägung ziehen, Deinem Sohn gelegentlich ein paar Grundregeln zivilisierter Umgangsformen beizubringen; nur zur Sicherheit.

 

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Translation/Erörterungen:

 

Manchmal wird Wien als kinderfeindliche Stadt bezeichnet. Dieser - zweifellos falsche - Eindruck basiert auf einer ortsspezifischen Interessenskollision.
Wie in jedem Sozialgefüge wird auch hier abweichendes Verhalten toleriert, solange es sich um eine einzelne, überschaubare Gruppe handelt. Wenn manche Mitglieder ihrer Präsenz also beispielsweise durch Lärm, Flurschäden sowie erratische Verschmutzungen Ausdruck verleihen, kann man damit leben.
Allerdings gibt es hier nicht nur Kinder, sondern zudem eine vergleichbar große Anzahl von Hunden. (Die Ursache dafür liegt in den unergründlichen Tiefen der Wienerseele verborgen. Canis canis ist im städtischen Raum denkbar schlecht aufgehoben, und im Unterschied zu Kindern a priori kaum lern- oder entwicklungsfähig).
Da "des Menschen bester Freund" die Geduldsreserven Erwachsener also bereits erschöpft, haben humanoide Störfaktoren einen etwas schwereren Stand - was sich in Kommentaren wie dem eingangs zitierten äußern kann. Die Wendung du gheast zrukpudat und otribm (sinngemäß: "Man sollte den Geschlechtsverkehr, der zu deiner Entstehung führte, chronologisch rückläufig vollziehen und die befruchtete Eizelle entfernen") zeugt in diesem Zusammenhang von ausgeprägter Vorstellungskraft.

Säuglingen respektive Kleinkindern bringt der Wiener aber durchaus Zuneigung entgegen und nennt sie liebevoll scheißerl, bauxerl (von pausbäckigen Barockengeln) oder buzerl. Letzteres könnte sich ebenfalls von kleinen Engeln herleiten (Putten) - oder aber vom mittelhochdeutschen butze = Kobold. (Vgl.: "Bi-Ba-Butzemann". Ein alter Aberglaube, demzufolge im Inneren von Früchten kleine Naturgeister leben, gab dem Kerngehäuse - buz - seinen Namen.)
Lateinische Wurzeln (pauxillus = klein, pusillus = winzig) dürften angesichts ortsüblicher Fremdsprachenkenntnisse eher unwahrscheinlich sein.
Bislang ungeklärt ist die Herkunft von gschrop. Die Bezeichnung bampaletsch gemahnt an das italienische bamboleccio (dim. zu bambino = Kind); der Terminus zwutschkerl wiederum soll auf das tschechische cvrčka zurückgehen (Gen. von cvrček = Grille, kleiner Mensch).

Sobald der Nachwuchs aber einen gewissen Grad an motorischer und verbaler Selbständigkeit erreicht hat, enden die Sympathien. Zumindest Kinder anderer Leute werden dann gern als frozn, (sau)gfrasda, (kräzn)bankatn, huankinda oder (ölendige) bruad apostrophiert; der eigene Stammhalter kommt eher mit einem lausbua davon. Das bildhafte Gleichnis eines tropfenden Zapfhahns findet sich im Schimpfwort rozpipm, während der Ausdruck kiwekind (von: Kübel) auf rustikale Entsorgungspraktiken anspielt.
(Im Falle Moses´ soll es sich ja um ein Bastkörbchen gehandelt haben. Der moderneren Variante des Abfalleimers - dem Müllschlucker - verdankt hingegen möglicherweise die erst vor wenigen Jahren eingeführte "Babyklappe" ihr Konstruktionsprinzip.)

 

froz: von "Fratze"
gfrasd: von mhd.: gefraeße = Fresserei
hua: Prostituierte
kräzn: Krätze (eine Hautkrankheit, die durch mangelnde Hygiene gefördert wird - vgl.: lausbua)
bankat: von "auf der Bank gezeugt", d. h. unehelich; vgl.: bankaniern
ölendig: elend (im verächtlichen Sinne)
bruad: von "Brut"
roz: Nasenschleim

 

Anmerkung: Der Begriff "Indigo-Kinder" stammt von der Parapsychologin N. A. Trappe, die behauptet, die menschliche "Aura" wahrnehmen zu können: Kinder mit "indigofarbener Aura" seien überdurchschnittlich selbstbewußt, intelligent, autoritätsresistent und so weiter. Es ist wohl kein Zufall, daß viele dieser Symptome denen der Modekrankheit ADHS ähneln ("Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung"); an letzterer Erfindung verdient allerdings die Pharmaindustrie, wohingegen Esoteriker eine Behandlung natürlich ablehnen.
In jedem Fall bietet die Definition aber eine gute Ausrede für Eltern, die ihrem Nachwuchs mangelhafte Erziehung angedeihen lassen.

Dr. Seicherl

Rez gscheid!

Proletarisch korrekte Sprache im Alltag


Sie haben spezielle Fragen? Sie interessieren sich für die Herkunft einer Phrase? Sie haben keine Ahnung, was Ihnen Ihr unhöflicher Nachbar zu den unmöglichsten Tageszeiten zuruft? Zögern Sie nicht - schreiben Sie Dr. Seicherl unter Dr.Seicherl@gmx.net, oder hinterlassen Sie einfach einen Kommentar.

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