Kolumnen_Unerwünschte Nebenwirkungen

Schattenseiten

Dr. Trash empfiehlt: Lernen Sie eine ganz neue Bedeutung des Begriffs "Private Eye" kennen - in den phantasievollen, witzigen und nicht zuletzt grusligen "Nightside"-Noir-Krimis von Simon R. Green. Wer nach diesen Besuchen in der bisher unbekannten Londoner Unterwelt noch zu handelsüblichen Vampirromanzen greift, der hat kein Blut mehr. Zumindest nicht im Hirn.    30.04.2008

In der Nightside ist es immer drei Uhr früh.

Die Nightside liegt irgendwo unter, neben, hinter London. Wer dort hinwill, muß ungefähr so um die Ecke denken wie Harry Potter, wenn er die Reise nach Hogwarts antritt.

In der Nightside sind alle Alten und alten Götter, mythischen und Sagen-Gestalten, außerdimensionalen Wesen und Aliens zu Hause, die man sich nur vorstellen kann. Sie ist eine Parallelwelt, in der Magie ebenso funktioniert wie Science-Fiction-Technik, in der sämtliche verbotenen Vergnügungen und Laster zu Hause sind, in der Zombies neben Vampiren an der Bar sitzen und in der man sich schon anstrengen muß, seine Seele irgendwem zu verkaufen - weil das Angebot so groß ist.

Doch die Nightside unterscheidet sich wohltuend von anderen Welten der "Dark Fantasy"-Welle, die meist nur aus langweiligen Klischees für ein langweiliges Gothic-Leserpublikum bestehen. Der englische Autor Simon R. Green hat als den Helden seiner Romanreihe nämlich einen Privatdetektiv gewählt: John Taylor wurde in der Nightside geboren und besitzt die übersinnliche Gabe, mit Hilfe seines dritten Auges (des "Private Eye") alles aufzuspüren. Gleichzeitig macht ihn sein Talent aber für gefährliche Feinde sichtbar, die ihn seit seiner Kindheit verfolgen. Taylors Mutter ist nämlich ein mächtiges Wesen aus dem Reich der Legende - das den Vater des Protagonisten dazu gebracht hat, sich totzusaufen, und für ihn selbst eine interessante Zukunft geplant hat.

Aber dazu kommt Green erst in späteren Folgen der Serie. Am Beginn steht "Something from the Nightside", in dem John Taylor aus dem "normalen" London in seine Heimat und zu seiner Bestimmung zurückkehrt. Und die verknüpft allseits bekannte Noir-Krimi-Handlungsmuster gekonnt und liebevoll parodistisch mit Plot-Elementen der Phantastik: vom menschenfressenden Haus über die Suche nach dem Unheiligen Gral bis hin zum Krieg zwischen den Engeln von Himmel und Hölle (zwei Orten, die eigentlich keine Macht über die Nightside haben, sich aber trotzdem gern einmischen ...)

Manchmal ist die Story fast Nebensache. Da folgt man als Leser dem Ermittler Taylor einfach gern durch die Lokale und Clubs, Herrenhäuser und Slums, Friedhöfe und seltsamen Dimensionen der Nightside; freut sich über die splattrigen Talente seiner Gefährten Shotgun Suzie, Razor Eddie und Dead Boy; fühlt sich in einer Welt voll großartiger Ideen zu Hause, obwohl die für Normalverbraucher unglaublich gefährlich ist.

Aber genau dazu gibt´s ja Bücher - und die sieben "Nightside"-Romane (engl. bei Ace-Books; Band 1 auf dt. bei Feder & Schwert) zählen zu den besten derartigen "Reiseführern", die man sich wünschen kann.

Der Doc hat gesprochen.

Dr. Trash

Dr. Trash empfiehlt


erscheint in gedruckter Form in der höchst empfehlenswerten österreichischen Literaturzeitschrift "Buchkultur" - für Menschen, die beim Lesen noch nicht die Lippen bewegen müssen - und wird zeitversetzt Web-exklusiv im EVOLVER veröffentlicht.

Links:

Kommentare_

Print
Klaus Ferentschik - Ebenbild

Doppelgänger-Phantasie

In seinem neuen Roman erzählt Klaus Ferentschik von Spionen, verschwundenen USB-Sticks, Hagelkörnersammlern und Eisleichen. Das Ergebnis ist ein philosophisch-psychologischer Agententhriller, der mehr als doppelbödig daherkommt.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 42

Du darfst ...

Gute Nachricht für alle Desorientierten und von Relikten der Vergangenheit Geplagten: Unser beliebter Motivationstrainer Peter Hiess zeigt Euch einen Ausweg. Und die erste Beratungseinheit ist noch dazu gratis!  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 41

Gleisträume

Will man sich in den Vororten verorten, dann braucht man auch die praktische Verkehrsverbindung. Der EVOLVER-Stadtkolumnist begrüßt den Herbst mit einer Fahrt ins Grüne - und stimmt dabei ein Lob der Vorortelinie an.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 40

Weana Madln 2.0

Treffen der Giganten: Der "Depeschen"-Kolumnist diskutiert mit dem legendären Dr. Trash die Wiener Weiblichkeit von heute. Und zwar bei einem Doppelliter Gin-Tonic ... weil man sowas nüchtern nicht aushält.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 39

Der Tag der Unruhe

Unser Kolumnist läßt sich von Fernando Pessoa inspirieren und stellt bei seinen Großstadtspaziergängen Beobachtungen an, die von ganz weit draußen kommen. Dort wirkt nämlich selbst das Weihnachtsfest noch richtig friedlich.  

Kolumnen
Depeschen an die Provinz/Episode 38

Schneller! Schneller!

Wie man hört, trainieren US-Soldaten in Manövern für die Zombie-Apokalypse. In Wien scheint sie bereits ausgebrochen. Der EVOLVER-Experte für urbane Beobachtungen weiß auch, warum.