Kolumnen_Miststück der Woche II, Pt. 95

Nick Cave & The Bad Seeds: "The Six Strings That Drew Blood"

Wie sagte schon meine Oma? "Die Uhr läßt sich zurückdrehen, man muß nur aufpassen, daß man die Zeiger nicht abbricht." Grinderman ist so ein Rückdreh-Projekt - damit will Nick Cave die wilden Zeiten wieder aufleben lassen. Manfred Prescher findet den Jugendwahn des Australiers durchaus gut, die Originale aber besser.    13.09.2010

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Bei Nick Cave hat man sich längst an die melancholischen Molltöne gewöhnt, die den Blues - oberflächlich betrachtet - freundlicher wirken lassen. Mit den Bad Seeds jedenfalls eignet er sich für lange Herbstabende, an denen man der eigenen Sterblichkeit gedenkt und hofft, daß es einem dereinst wie Lazarus gehen wird. So viele schöne Lieder hat uns der Mann spätestens seit "The Good Son" geschenkt, daß er selbst wieder Lust auf das ureigene, längst vergangene Rabaukentum bekam.

Deshalb gründete er aus Bad-Seeds-Rudimenten die Band Grinderman, ließ sich den Original-Wurzelsepp-trifft-Trapper-trifft-Häuptling-Böser-Blick-Bart wachsen - und dachte, alles sei damit wieder wie damals im Mai, als die Birthday Party grad zu Ende ging und die Bad Seeds noch mit Schmackes aneckten. Die Zeiten haben sich freilich verändert; der Wohlstand hat Cave längst so im Griff, daß er nicht mehr wie die ausgemergelte Version von Iggy Pop wirkt. Weight-Watchers-Punkte sammeln muß er zwar noch nicht, aber er gehört - nicht nur, weil er mehrmals mit derselben pennt - halt schon längst zum Establishment.

Nick Cave müßte doch wissen, daß der Zahn immer hastiger und unersättlicher an der Zeit herumnagt und alles runterschluckt, was eben noch als felsenfester Grundwert irgendwo im Hier und Jetzt verankert schien. Schon 1984 nahm er ein Lied nochmal auf, das er in den späten 70er Jahren mit seiner ersten Formation Birthday Party vor allem live immer wieder zum (damals) besten gab: "The Six Strings That Drew Blood". Während beim Geburtstagsfest die rohe und auch ziemlich wüst-unmusikalische Gewalt vorherrschte, war die Aufnahme, die während der Sessions zum zweiten Bad-Seeds-Album "The Firstborn Is Dead" entstand, deutlich musikalischer. Wer jetzt denkt, daß das Blut unter den Fingernägeln hervorspritzte, weil die Gitarristen Barry Adamson, Hugo Race und Blixa Bargeld eifrig übten, hat zumindest in zwei von drei Fällen recht - Adamson und Race waren längst zu virtuos, um als Punks durchzugehen.

 

Das Lied "The Six Strings That Drew Blood" war seinerzeit auf der B-Seite der Single "Tupelo" und dann auch als Bonus-Track zur CD-Variante von "Firstborn" zu haben. Zu dem bis zum Endhalt in Elvis’ Geburtskaff vorwärtsstampfenden musikalischen Geisterzug paßt der Song auch perfekt: Er nimmt das Tempo raus, wir sind am Ziel angekommen, der Bahnhof ist genauso wenig einladend wie die Industriebrache drumherum. Irgendwo hämmern ein paar Jungs auf das Wrack eines Pick-up ein, der so alt und verbeult ist, daß ihn Elvis höchstselbst durch die Sumpfgebiete kutschiert haben könnte. Wir halten gemeinsam mit Cave inne, stellen uns vor, wie der King bei seinen Fahrten immer einen Blues-Song von Big Bill Broonzy oder Robert Johnson auf den Lippen hatte. Die Gitarre lehnte vor dem Beifahrersitz, und wenn er früher als geplant in Pascagoula oder Ridgeland ankam, vertrieb er sich die Zeit bis zur Rückfahrt damit, die Fingerkuppen blutig zu scheuern. Mit den sechs Saiten, die seine Welt bedeuteten: "His eyes like wheels spinnin’ round/Jerkin-off at every sound/Layin’ all his crosses down/O yeah/He got six strings/The six strings that drew blood".

Hier, auf der Flipside von "Tupelo", findet der Song seine Bestimmung. Hier zeigt er, wofür ihn Cave eigentlich von Anfang an gedacht haben muß. Er beschreibt nämlich einen Moment, den Elvis sicher oft und frustrierend genug erlebt hat: eine kaputte Welt, aus der es kein Entrinnen gibt - selbst die Sechssaitige verheißt nur trügerisch Hoffnung. Talent-Scouts verirren sich schließlich nie in die 40.000-Einwohner-Einöde im amerikanischen Niemandsland. Aber, verdammt, er muß einfach hier raus: "He’s smashed his teeth out on the other/Well he look in the mirror and say/Don’t fuck me brother." Nebenbei ist die 84er-Aufnahme weit weniger rüde als die Varianten von Birthday Party - und wirkt genau deshalb noch bitterer, dunkler und bösartiger. Ganz zum Schwarzweiß von Album- und Single-Cover passend - eben Noir Music. "The Firstborn Is Dead" ist eine der besten Platten der Bad Seeds; im Vergleich dazu wirken Grinderman, als hätte hier wer die Nachgeburt des epochalen Werkes großgezogen und in die Läden gebracht.

 

Nächste Woche werde ich hier natürlich weiter abwärtszählen - es geht dann um den hierzulande aufgrund weltgeschichtlicher Verwerfungen untergegangenen Louis Jordan. Der Mann ist bis heute neben James Brown und Aretha Franklin der erfolgreichste Afroamerikaner in den US-Charts und der erste, der von einem Song mehr als eine Million Tonträger verkaufte. Einer seiner Erfolge von 1943, "5 Guys Named Moe", hätte auch heute das Zeug zum Hit, aber die Uhr läßt sich leider doch nicht so ohne weiteres zurückdrehen. Was es mit den Herren Big Moe, Little Big Moe, Four-Eyed Moe, No Moe und Eat Moe auf sich hat, ist trotzdem erzählenswert.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Nick Cave & The Bad Seeds - The Firstborn Is Dead

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(Mute/EMI)

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