Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 78

Fehlfarben: "Politdisko"

Ob sie heute noch so wichtig sind wie früher, weiß Manfred Prescher nicht. Dank Peter Hein können sie aber immer noch kraftvoller zubeißen als jede andere deutschsprachige Kombo.    30.04.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

Meine Frau ist meine gründlichste Leserin, kritisch hinterfragt sie jeden Satz. Für dieses spezielle "Miststück" hat sie sich gewünscht, daß ich ausnahmsweise mal auf meinen Hang zum Namedropping und zur streberhaften Assoziationskettenverknüpfung verzichte. Blöderweise bietet sich das gerade bei Fehlfarben, dem Mittel-, besser dem Schwerpunkt der einflußreichen, immens wichtigen Düsseldorfer Pop-Intelligenzija noch mehr an als sonst. Aber kein Wort zu Family 5, O.R.A.V., DAF oder auch der überaus wechselhaften Geschichte der wichtigsten deutschsprachigen Gruppe der letzten 30 Jahre. Gehen wir also voran.

 

Womit wir schon beim eigentlichen Thema wären: der "Politdisko", wie der zentrale Song aus dem neuen Album "Handbuch für die Welt" heißt. "Ein Jahr (es geht voran)" war zur Anarcho-Sponti-Wackersdorf-Anti-Reagan-Zeit ein Hit in den Politdiskos und wurde regelmäßig zwischen "Macht kaputt, was euch kaputt macht" und "Deutschland muß sterben" eingebaut - und das, obwohl sich im linken Spektrum etliche Stimmen fanden, die Fehlfarben nicht verzeihen wollten, daß sich die Band mit dem EMI-Konzern verbandelt hatte. Man hatte sich an den Feind gekettet - und wie man sich kettet, so lügt man. Doch von diesen scheinbar gerechten Auswüchsen des Volkszorns einmal abgesehen, wurde der Song konsensmäßig geliebt und mißverstanden. Platz für den Slogan "Es geht voran!" bot selbst der kleinste Button, und so schmückte er auch manchen Parka.

Die krasse Fehlinterpretation des Textes und damit der Refrainzeile als Kampfaufruf war es auch, die Sänger und Texter Peter Hein auf die Nerven ging. Das Lied ist nämlich in Wahrheit eine beeindruckende Zustandsbeschreibung der realen 80er-Jahre-Welt und fordert nicht zum Umsturz auf. Es ist vielmehr ein defätistischer Ausblick auf das, was sich aus dem Ist-Zustand ableiten läßt. Es geht unweigerlich voran, aber das Voranschreiten an sich führt nicht unbedingt zu einer Verbesserung der Lage. Diese Erkenntnis barg der Hit von einst eigentlich schon damals in sich, aber erst jetzt - im Fehlfarbenschen Spätwerk - offenbart sie sich selbst für den letzten linken Spießer. Die Thematik ist auch Zentrum des aktuellen Werkes "Politdisko". Hein erklärt in dem Song, daß er das Handbuch für die Welt schon vor Jahren abbestellt hat; wahrscheinlich zu der Zeit, als er sich mit den nicht zu kontrollierenden Auswüchsen des Erfolgs, besonders dieses einen Sponti-Gassenhauers, beschäftigte - und Fehlfarben den Rücken kehrte.

Daß Fehlfarben Recht behielten und der Fortschritt der Welt ein menschlicher wie auch politischer Rückschritt war, zeigt ihre Größe. Ihre Einzigartigkeit besteht unter anderem darin, daß sie sich konsequent der Vereinnahmung durch Szenen und Subszenen entzogen, daß sie den eigenen Kopf behielten, auch wenn er schmerzte. Darin ist natürlich ihr Scheitern auf höchstem Niveau zu sehen.

Peter Hein, der mittlerweile wieder den Ton angibt und es mit seiner Stimme - wie sonst höchstens noch Paul Weller - schafft, Wut, Soul (jawohl!), punkige Energie und Verzweiflung gleichzeitig auszudrücken, ist als Interpret der eigenen Lyrics genauso einzigartig wie die restliche Band, die verschiedenste musikalische Präferenzen zu höchst unterschiedlichen Platten verarbeitet.

"Handbuch für die Welt" ist im Fehlfarben-Kontext das Werk, das am ehesten auf das mittlerweile auch vergoldete Album "Monarchie und Alltag" von 1980 verweist. Mit dem Blick über die Jahrzehnte und ihre Turbulenzen hinweg wirkt der Meilenstein von damals immer noch quälend aktuell. Das fängt schon beim Cover mit dem mausgrauen Mietshaus an, auf dessen Seitenwand ein Werbeplakat mit dem umgewandelten LP-Titel-Spruch "Zehn Millionen Fernseh-Zuschauer können sich nicht irren" Massenphänomene auf den negativen Punkt brachte. Diese Umdichtung des legendären LP-Titels "50, 000, 000 Elvis Fans Can´t Be Wrong" erklärt in sieben knappen Worten, warum sich Fehlfarben in den Charts der Politaktivisten und anderer Großgruppen unwohl fühlen. Schließlich essen wir ja auch keinen Hundekot, obwohl das Milliarden Fliegen täglich tun. Also raus aus der Politdisko, wo im Einheits-Pogo-Schritt zu "Es geht voran" die kapitalistische Welt symbolisch mit den Füßen getreten wurde.

Der neue Song kommt mit Synthie-Sound und leichtem Disco-Rhythmus daher, ist aber dennoch schnell und hart. Peter Hein setzt sich absichtlich zwischen alle Stühle und baut so einer feindlichen Übernahme vor. Eine Disco, die dieses Lied spielt, wird sich wohl kaum finden lassen. Natürlich könnte man auch anders, also irgendwelchen Massen nach dem Konsensgeschmack dichten und komponieren - wenn man dazu nicht den eigenen moralischen Schweinehund überlisten müßte. Als moralisch integrer Mensch verzichtet man aber darauf und begnügt sich mit weniger, wie Hein im Refrain von "Politdisko" formuliert: "Es mag ja wirklich schlimm sein, und vielleicht tut es mir leid, aber zum richtig Gutsein, da hab´ ich keine Zeit." Dieser Kernsatz läßt sich genauso gut mitsingen wie "Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran", ist aber bei weitem nicht so catchy und parolenhaft. Wie vor 25 Jahren beschreibt Hein wieder einen Ist-Zustand.

Es ging voran in eine Welt vollständiger Überwachung, wo jeder immer und überall erreichbar ist, wo er immer Spuren hinterläßt und die persönliche Intimität nirgendwo mehr gewährleistet wird. "The rich have got their channels in the bedrooms of the poor" heißt es in Leonard Cohens "Tower Of Song". Geld und Macht gehören noch untrennbarer zusammen, als es sich ein Karl Marx einst vorstellen konnte, und der Einflußbereich dieser unheiligen Allianz reicht bis in den hintersten Winkel des Individuums. Von dem bleibt nicht viel Einzigartigkeit übrig: Wer nach den gesellschaftlichen Regeln erfolgreich ist, hat sich perfekt angepaßt. Und genau darum geht es in "Politdisko" auch.

Es mag wirklich schlimm sein, daß Hein keine Zeit hat, ein richtiger Superstar zu werden. Die Hitparade wäre mit ihm zweifelsohne besser. Vielleicht könnte er mit einem langem Marsch durch die Pop-Institutionen mehr Leute erreichen. Wahrscheinlich ist das aber nicht. So bleibt er sich treu und verzichtet auf das jährliche Handbuch-Update. Um ihn herum geht es immer noch voran, aber auch Peter Hein mag sich nicht mehr vorstellen, wohin die Reise geht ...


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Fehlfarben - Handbuch für die Welt


V2/edel (D 2007)

Links:

Fehlfarben live


20. 5. 2007: Dortmund, FZW

21. 5. 2007: Köln, Prime Club

22. 5. 2007: Wetzlar, Franzis

23. 5. 2007: Würzburg, AKW

24. 5. 2007: Rüsselsheim, das Rind

25. 5. 2007: Tuttlingen, Rittergarten

26. 5. 2007: Freiburg, Cafe Atlantik

27. 5. 2007: München, Backstage

28. 5. 2007: Wien, Arena

6. 6. 2007: Leipzig, Schaubühne

7. 6. 2007: Hamburg, Übel & Gefährlich

8. 6. 2007: Berlin, Admiralspalast

9. 6. 2007: Magdeburg, Sackfabrik

10. 6. 2007: Dresden, Scheune

11. 6. 2007: Stuttgart, Club Central

12. 6. 2007: Düsseldorf, Zakk

14. 6. 2007: Hannover, Musik

Links:

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