Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 72

The Gossip: "Standing In The Way Of Control"

Die Sängerin entspricht garantiert nicht dem gängigen Schönheitsideal, der Song ist nicht das, woraus zwangsläufig Hits werden. Ein cooles Zwischen-allen-Stühlen-Sitzen - findet Manfred Prescher.    19.03.2007

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett – und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

In den Besprechungen der CD "Standing In The Way Of Control" ist - neben den üblichen Vergleichen, die nicht nur dem Kolumnisten hier das Einordnen in praktische Schubladen erleichtern - zu lesen, daß es sich bei dem Werk um "Indie" handelt: ein Begriff, der so alt ist wie der Baum, unter dem das Auto für gewöhnlich parkt, aber viel nutzloser. Denn was sagt er aus? Im Jahr 2007 überhaupt nichts mehr. Als "Indie" Anfang der 80er Jahre zur salonfähigen Umschreibung wurde, war es schon nicht wirklich neu, da es unabhängige Labels - und genau dafür steht das Wort - in Amiland schon vor dem Zweiten Weltkrieg gab. Sie existierten sogar aus ähnlichen Gründen wie heute, weil die Majors auch damals hauptsächlich den Mainstream bedienten; Schwarze und Landeier in derben Arbeitshosen hatten da keine Chance.

Nachzulesen ist das alles im Buch "Nichts als Krach" von Götz Alsmann. Vor einem Vierteljahrhundert konnte "Indie" (fast) alles Mögliche sein: putzige Chansons der Zimmermänner (die übrigens gerade ihre Auferstehung feiern), Krach der Neubauten, Geschrummel von den Vietnam Veterans oder intelligenter Hit-Sound von Joy Division oder den Smiths um Morrissey, den Motzvater des Rock. Um die Grundvoraussetzungen zu erfüllen, war neben der "richtigen" Haltung auch die Absage an Sonyversal und Co. nötig, falls die mit lukrativen Verträgen in ihre Nobelstudios lockten. Wer dem nicht widerstehen konnte, verlor unter wütendem "Sell-out!"-Gebrüll die Fans der ersten Stunde. Verräter wie R.E.M. oder Nirvana erreichten dann allerdings mit ihrer gut geschmierten Marketing-Maschine gleich ein paar Millionen Menschen mehr.

Gewisse Dinge gingen für die Propheten der wahren, künstlerisch wertvollen, antikapitalistischen Grundhaltung schon 1982 nicht, obwohl der semi-intellektuelle Diskurs die politische Relevanz des Pop zu erklären suchte: Ein Indiesong sollte nicht glatt sein und seinen Hit-Appeal am Besten so verbergen, daß ihn die Masse nicht wahrnehmen konnte. Erfolge wie "Panic" oder "Blue Monday" waren vielen schon suspekt. Noch merkwürdiger hätte man es damals gefunden, wenn hedonistische Party-People über Indie-Labels ihre oberflächliche Hopsmusik an die Feierwütigen gebracht hätten. Haben Sie etwa? Ja, doch! Die Mehrzahl der wichtigen Disco-Hits wurde von Mini-Plattenfirmen auf die Maxi-Scheiben gepreßt, die die Glitzerwelt bedeuteten. Die Platten kursierten nur innerhalb des "In"-Zirkels, eigentlich genau wie das SST-Gesamtwerk, also SWA, Minutemen oder Universal Congress Of. Es gab "Indie" und "Indie", also Indie ohne und Indie mit der "richtigen" Haltung. Der Unterschied lag also in dem, was als "politisch korrekt" empfunden wurde. The Gossip hätten damals weder auf der einen noch auf der anderen Seite Chancen gehabt - zumindest nicht mit dem Titelstück ihres aktuellen Albums.

Dieser Song ist nämlich für die Menschen gedacht, denen Mika und die Scissor Sisters zu glatt sind. "Standing In The Way Of Control" ist ein echter Disco-Song, extrem tanzbar, aber mit einem Gestus eingespielt, der eher an Jon Spencer Blues Explosion oder Sonic Youth erinnert. (Und haben die nicht auch mit "Goo" und im Verein mit Chuck D. den Indie-Geist an Geffen verscherbelt?) Für den Einsatz unter dem Strobelight ist das Ding zu schräg instrumentiert, die Gitarre sägt zu ungently, überhaupt hat der sechssaitige Stromprüfer doch nichts in der Disco verloren, oder? Für den hartgesottenen Indie-aner ist die Melodie zu zuckrig. Ich stelle mir vor, wie er sich beim Hören mit harter Faust auf die unabsichtlich zuckenden Tanzbeine schlägt, um so dem schwungvollen Spuk ein Ende zu setzen. Realistischerweise wird er einfach zu den nächsten Liedern "Jealous Girls" und "Coal To Diamonds" vorwärtsklicken, das erspart blaue Flecken. Vielleicht wird er sich auch irgendwo über den seichten Müll beschweren, aber "Gossip" heißt nicht umsonst "Geschwätz" - und so dürfte es dem Trio aus Olympia/Arkansas herzlich egal sein, was er denkt. Der Sack Reis, der irgendwo in Hong-Kong-Pfui umfällt, ist wahrscheinlich interessanter. Ohnehin sitzen die drei Musiker erklärtermaßen zwischen allen Stühlen, von allem Anfang an.

 

Beth Ditto, auf die der Ausdruck "charismatische Sängerin" wirklich einmal zutrifft, und ihr Gitarrist Brace Paine sind in Searcy/Arkansas aufgewachsen und gingen dort ihre ersten musikalischen Schritte. Daß sie sich nebenbei als homosexuell outeten, machte das Liebesleben und erst recht die Kunstausübung in der Engstirnigkeit des Provinzkaffs nicht leichter. Bunte Hunde können sich wahrscheinlich leichter verstecken. Im größeren Olympia war das schon leichter, dort schloß man sich dem wachsenden Riot-Grrrl-Klüngel an. Man tourte mit Stereo Total, den White Stripes, Sonic Youth, Le Tigre und anderen Indie-Sonderlingen. Le Tigre hat übrigens einen pfiffigen Remix von "Standing In The Way Of Control" zusammengemischt. Das Ding gab es bislang nur auf Maxi, die CD liefert es als coolen Bonustrack. Im Original ist allerdings die Stimme von Beth Ditto besser zu hören.

Was für ein Organ, was für eine Frau! Ein Hungerhaken ist sie nicht, sondern rund und - wie es aussieht - auch gesund, zweimal so breit wie Madame Campbell, aber mindestens auch zweimal so schön. Beths Ausstrahlung hat nichts von Rohkost-Makrobiotik-Ausgemergeltheit, man sieht ihr die Lebens- und Sinnenfreude an. Sie ist auch optisch der Gegenentwurf zum enthaltsamen Indie-Jünger. Aber den gibt es heute sowieso nur mehr in der Musikpresse. Wer Ohren hat - und die nicht nur zur Belüftung des Kopfinnenraumes nutzt - bekommt von The Gossip einen ungeschliffenen Diamanten. Und wer einmal einem Konzert des Trios beiwohnen durfte, der weiß, was nicht nur Bühnenpräsenz bedeutet. Im Vergleich mit dem Studioalbum offenbart sich Beths unbeugsamer Wille live noch um einiges deutlicher ...

Im Sinne von "unabhängig" sind die Gossips eindeutig "Indie" - und das hat überhaupt nichts mit ihrem Plattenvertrag oder ihrem Vertriebsnetz zu tun.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

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