Die Kaiser Chiefs im Web
Nicht einmal im Urlaub bleiben Manfred Prescher "böse Töne" erspart. Daher warnt er diesmal vor einem kaiserlichen Musiktitel, dem man sich nur schwer entziehen kann. 27.12.2005
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Blick zurück nach vorn: Die Kaiser Chiefs unterhielten uns im Jahr 2005 mit einem Power-Mix aus Oasis, Clash, Gary Glitter und eingängigen Zeilen wie "Everyday I love you less and less" oder "I predict a riot". Daß die Jungs auf den erfolgreichen Retro-Zug aufsprangen, konnte man ihnen nicht übelnehmen, denn selten war ein Raubzug durch die Pop-Vergangenheit charmanter. Aber nun versuchen sie sich an einem Motown-Klassiker, an dem man sich eigentlich längst sattgehört haben müßte. Man schüttelt den Kopf über soviel Unverschämtheit, doch die Füße wippen im Takt zu "Grapevine".
Eine Kneipe kurz vor dem Morgengrauen. Der Wirt stellt schon die Stühle hoch, aber im Eck sitzt immer noch das Paar vor seinen längst geleerten Weingläsern. Die beiden sind mit sich selbst beschäftigt, die Blicke gehen durch den anderen hindurch. Längst ist alles gesagt. Während sie ihm erklärt, daß zwischen ihnen alles "aus" sei und ihm mit der Schwärmerei für ihren neuen Freund die letzte Hoffnung raubt, versucht er zusehends verzweifelter, sie zum Bleiben zu bewegen. Aber in Gedanken ist sie schon fort, bevor der Wirt die letzten Achteln serviert.
Die Geschichte ist bekannt und eine zwischenmenschliche Tragödie von antikem Ausmaß. In der Popwelt wird sie wieder und wieder besungen. Elvis, Hank Williams, Stevie Wonder, die Go-Betweens ... Roy Orbison hatte sogar die passende Stimme dazu. Und dann ist da ein Lied, das genau dieses weinunselige Beziehungsende beschreibt: "I Heard It Through The Grapevine", 1967 in der Detroiter Hitschmiede Motown aus dem Material gehauen, aus dem man Evergreens macht. Ursprünglich erdachte ihn das Autoren-Team Barrett Strong und Norman Whitfield für Gladys Knight, die damit auch in den R&B-Charts auftauchte. Dann, 1968, wurde er in der Version von Marvin Gaye zum Welterfolg und zum Synonym für den Liebesentzug. Die Trauer in Gayes´ Stimme ist so zeitlos, daß es außer seiner Version keiner weiteren bedarf. Höchstens einer, die mit Wut und Zorn auf das Schlußmachen reagiert - und die wurde 1970 auf der LP "Cosmo´s Factory" veröffentlicht: Elf Minuten und sieben Sekunden lang kreischt und tobt John Fogerty zu einem Rocksound, der tief aus den Sümpfen Louisianas zu kommen scheint. Marvin Gaye und Creedence Clearwater Revival - zwei Versionen für die Ewigkeit.
Doch immer und wieder versuchten sich die unterschiedlichsten Interpreten an "Grapevine". Geschätzte 375 Varianten des Welt-Hits gibt es, und man möchte bei jeder einzelnen davon mit Gerhard Polt fragen: "Hat´s des braucht?" Natürlich braucht es kein "Grapevine"-Cover, auch nicht das eben erschienene der Kaiser Chiefs. Die Frechdachse aus Leeds haben den Song nun trotzdem aufgenommen - für den Benefiz-Sampler "Help: A Day In The Life". Und frech ist es allemal, sich ein Lied vorzunehmen, zu dem beinahe jeder die Stimmen von Gaye oder Fogerty im Ohr hat. Aber das schert Simon Rix, Nick Baines, Nick Hodgson und ihren Sänger Ricky Wilson nicht die Bohne. Wilson kannte noch nie Skrupel: Während die anderen ihre erste gemeinsame Schüler-Band gründeten, stand er mit Versionen von "Jumpin´ Jack Flash" oder "Let´s Spend The Night Together" auf der Bühne. Außerdem verpaßte er den Chiefs den - letztlich zum Erfolg führenden - Image-Wechsel, von der Indie-Rock-Band hin zur Retro-Kombo. Wahrscheinlich hätten sie sich auch an Soul versucht, wenn die Zeichen der Zeit reif für ein Motown-Revival gewesen wären. Man tut ja, was man kann, und außerdem liebt man, so Wilson, den Sound aus Detroit schon, seit das Zeug im "Move On Up", dem angesagten Sixties-Tanztempel von Leeds, gespielt wurde.
Also noch eine "Grapevine"-Variante - und wäre es eine wie die von Roger "Zapp" Troutman, den Slits, den Flying Pickets oder Joe Cocker, dann wäre es ein echtes Miststück, für das der Mantel des Schweigens noch zu barmherzig wäre. Aber die Kaiser Chiefs schaffen es, daß man den Gassenhauer freudig mitsummt und dabei keine Sekunde an den großen Marvin Gaye denkt. Denn Ricky Wilson versucht gar nicht erst, wie ein Soul-Mann zu klingen. Zu einem Beat, der eindeutig von Franz Ferdinand stammt und zu einer leichten Achtziger-Jahre-Synthie-Spur im Geiste von Human League gibt er dem Ende der Liebe eine neue Dimension: Er leidet nicht, er ist auch nicht wirklich sauer. Wilson klingt fast so, als sei es ihm herzlich egal, mit wem seine Freundin seit Neuestem rummacht und daß sie demnächst wahrscheinlich für immer aus seinem Dunstkreis verschwinden wird. Sein "Grapevine" wirkt wie ein unaufgeregtes "Hau ab. Aber wenn du gehst, sag an der Bar Bescheid, daß ich ein Bier brauche. Beeil dich, mir geht das Weingesaufe verdammt auf den Sack."
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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