Die Interpreten im Web
Passend zur Jahreszeit dröhnen uns seit Tagen diverse Christkind-Schlager entgegen. Grund genug für Manfred Prescher, der Nordpol-Hitparade ein "Miststück" zu widmen. 19.12.2005
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
"Ja, ist denn heut´ schon Weihnachten?" Blöde Frage, natürlich noch nicht. Dennoch wird man seit Wochen von Klängen genervt, die so süß klingen, daß sie die Gehörgänge verkleben und der HNO-Spezialist nach den Feiertagen mit dem Dampfstrahler ans Werk gehen muß. Erst gibt´s das ewig gleiche Sound-Marzipan, und dann meint noch die Ehefrau von Elvis Costello, sie müsse die Geburt des Jesuskindleins mit ihrem Geklimper so ankündigen, daß selbst abgebrühteste Schäfer sich lieber Wolle in die Ohren stopfen und den Herrgott einen guten Vater und Sohn sein lassen. Aber wir sind Stadtmenschen und keine Hirten.
Es scheint so, als seien es immer die Jahre mit der Endziffer "3", die die Katastrophen bringen. Das stimmt zwar nicht, klingt aber gut. Nicht nur, daß anno ´33 Adolf an die Macht kam, nein, im Jahre 1983 beschloß ein 1963 (!) im Norden von London geborener Mann, die Welt alle zwölf Monate mit einer Massivität zu erobern, die Napoleons Feldzüge in den Schatten stellt. Gut, der Vergleich hinkt, denn George Michael hat keine Toten hinterlassen. Er hat "nur" das allgemeine Geschmacksniveau erheblich in Richtung Marianengraben gedrückt und nebenbei eine unerbittlich wiederkehrende Perversion geschaffen, die seit dem erstmaligen Charts-Eintritt am 15. Dezember 1984 Jahr für Jahr wieder in den Hitlisten auftaucht. Dieses in Marzipan-Ersatzstoff gegossene Stück Stoff, aus dem die Alpträume sind, wurde bei 90 Grad mit reichlich Weichspüler blütenrein gewaschen - und so klingt es auch: George Michael und sein Wham!-Kompagnon Andrew Ridgeley, der logischerweise auch 1963 das Licht der Welt erblickte, säuseln mit ihren dünnen Warmduscher-Stimmchen durch den kargen Text von "Last Christmas". Was Billionen von Produzenten mit der famosen Melodie des übrigens exakt 100 Jahre vor der Geburt von Michael/Ridgeley verstorbenen oberösterreichischen Komponisten Franz Xaver Gruber ("Stille Nacht") anstellten und wieder und wieder anstellen, haben Wham! ihrem simplen Massenprodukt gleich selber angetan: Sie drapierten eigenhändig billiges Orgel-Ersatz-Synthesizer-Gedudel um die simple Tonfolge herum. So kann wenigstens kein Epigone mehr das Lied verunstalten.
Muß man in die Innenstadt, weil Amazon immer noch nicht alle Geschenke liefern kann, dann verfolgt einen "Last Christmas" überall hin. Im Kaufhaus tönt es zart aus den Lautsprechern, und auf dem berühmtesten aller Weihnachtsmärkte ist das Lied gleich mehrfach zu hören. Am Stand mit dem neumodischen Plastikspielzeug - "Mama, schau mal, da gibt´s einen Leopard II" - sind es Wham! selbst, an der Glühwein-Tankstelle schallt einem eine Version entgegen, die auf die Gesangsversuche des ursprünglich gar nicht mal so uncoolen Duos ("Young Guns", "Wham! Rap") gnädig verzichtet und nur die billige Orgel bietet. Den Leuten mit den glasigen Alkoholikeraugen scheint´s zu gefallen, hie und da schwappt mal ein wenig Glühwein im Takt dazu aus der Tasse auf die Platte des Stehtisches. Selbst das verliebte Pärchen, das vom anderen Ufer des Flusses rüber auf den Weihnachtsmarkt gekommen ist, wiegt sich zu "Last Christmas".
Das Lied kennt keine Gnade. Aber man ist ja selber schuld, warum muß man auch über den Christkindlesmarkt stiefeln? Also schiebt man sich so rasch wie möglich durchs Gedränge und überlegt, ob man sich vielleicht einen Leo II wünschen soll. Mit dem ließen sich prima Angel- und sonstige Sachsen zur Seite schieben. Nein, man verzichtet. Irgendwann schafft man es dann doch noch in den großen Plattenladen. Und was läuft dort? Nein, nicht Wham! Stattdessen ist die Reibeisenstimme von Noddy Holder zu hören. "Merry X-Mas Everybody", Rockmusik light für die alt gewordenen Anhänger des heiligen Uriah Heep.
Nichts gegen Slade, aber ihr sich seit - genau! - 1973 immer wieder ins kollektive Bewußtsein zurücklärmendes Weihnachtslied rangiert in der Liste der musikalischen Grausamkeiten, die es zum Fest der Liebe in besonders großer Zahl gibt, noch deutlich vor dem ebenfalls längst nicht mehr zu ertragenden "Happy X-Mas (War Is Over") von John Lennon. Der wollte mit dem Song wenigstens den Weltfrieden herstellen, während Slade nur die Rentenkasse aufbessern mußten. Immerhin ist die Substanz der Songs von Slade und Lennon besser als die von Wham! Das belegen die Versionen von Antony & The Johnsons featuring Boy George ("Happy X-Mas") und Oasis ("Merry X-Mas"). Dennoch sei vor übermäßigem Konsum dieser Songs gewarnt. Speziell Menschen, die noch in der seelischen Entwicklung stecken, könnten Schaden nehmen, weshalb beide Lieder eigentlich nicht nur ein "X" im Titel tragen müssten, sondern drei.
Triple-X-Rated also, damit das Zeug nicht versehentlich an Jugendliche abgegeben wird.
Neben den immer wiedergekäuten Weihnachtsliedern hat sich dieses Jahr auch eine komplette CD in die Regale - und von dort in zig Player - geschoben: Sie heißt schlicht "Christmas Songs" und enthält ein Dutzend Lieder, allesamt von Menschen geschrieben, die sich nicht mehr gegen das, was Diana Krall ihren Werken antut, wehren können. Schon die permanente Werbeberieselung, die während der letzten Folgen der ersten Staffel von "Desperate Housewives" begann und auch nicht vor "Stargate" oder den "Simpsons" haltmacht, zeigt die ganze Tragweite dieser angeblich jazzigen Mischung.
Das beste daran ist noch die Videooptik von Frau Krall. Die Ehefrau von Elvis Costello, der übrigens auf das öffentliche Singen von Weihnachtsliedern verzichtet, sieht schon recht schnuckelig aus. Der Rest des 30-Sekunden-Spots ist lauwarmes Geklimper, auf der untersten Sprosse der Kenny-G-Skala angesiedelt. Das ganze Album muß man ertragen, wenn man in etwas besseren Modegeschäften nach Geschenken sucht. Ich hoffe nur, daß Miles Davis oder John Coltrane einst über Dianas Versionen von "Let It Snow", "Winter Wonderland" oder "White Christmas" richten und sie für so lange ins Fegefeuer schicken werden, bis sie bereit ist, für Elvis C. Hausfrau und Mutter zu spielen oder es mal mit guter Musik versucht.
Wobei ich schon beim Schluß-Tip wäre: Richtig schöne Weihnachtsklänge bietet "Christmas With Dino". Dean Martin singt und swingt relaxt, ohne falschen Bombast - und beweist nebenbei, daß man auch mit dem Bourbon-Glas in der Hand festliche Stimmung verbreiten kann.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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