Xavier Naidoo - Telegramm für X
SPV (D 2005)
Wenn sich Pop-Barden zum Predigen berufen fühlen, ist das nicht weiter verwerflich. Manfred Prescher wundert sich nur, warum es ausgerechnet Xavier Naidoo sein muß. 30.01.2006
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Daß einer so klingt, als würde Stevie Wonder singen, während ihm jemand permanent in die Weichteile tritt, oder wie Herbert Grönemeyer, wenn er die Stimme noch mehr preßt - geschenkt. In einer Welt, die noch nicht mal unter quakender Klingeltonwerbung leidet, verwundert es wenig, daß sich Menschen finden, die das Organ von Xavier Naidoo für soulful halten.
Die Geschmäcker sind verschieden, und die Mehrheit hat ohnehin keinen. Bedenklich ist allerdings, daß es der nach Jürgen Kohler berühmteste aller Söhne Mannheims mittlerweile zum universellen Heilsbringer gebracht hat. Wahrscheinlich wird Naidoo eines Tages von höherer Stelle geehrt und darf zu Füßen der Heiligen Dreifaltigkeit Platz nehmen. Und vorher wird er mindestens vom Nachfolger Petri selig gesprochen. Oder gar von allen Patriarchen der unterschiedlichen Welt- und Provinzreligionen. Schließlich ist dem Manne das universell Religiöse praktisch in die Wiege gelegt worden: Die Großeltern väterlicherseits sind indischer Abstammung, und Xaviers Mama ist Südafrikanerin. Deshalb hat sie den Buben eben nicht Xaverl genannt, sondern dem Namen ein "i" beigefügt, das freilich besser zum Teint des Mulikulti-Propheten paßt.
Wer, wenn nicht er, wird die Grenzen der Religionen durchbrechen und die Welt retten? Falls er nicht vorher unter der Last der Verantwortung und dem kitschigen Bombast der globalen Heils-Mixtur zusammenbricht. Was wohl auch nicht so schlimm wäre; einer wie er ist glatt dazu imstande, den Tod zu überwinden. Schließlich geht das Gerücht um, daß die Karriere des Barden begann, als er einmal zu Fuß über den Rhein wanderte - und das publikumswirksamerweise direkt neben der Konrad-Adenauer-Brücke.
Erst danach versuchte ihn HipHop-Teufelchen Moses Pelham auf die böse, die Rödelheimer Seite, zu ziehen. Doch Naidoo blieb standhaft, scharte seine Jünger um sich und verkündet seither zusehends aufdringlicher das Wort Gottes. Daß der Weg zur religiösen Vereinigung der Menschheit und endgültigen Beantwortung aller anstehenden Sinnfragen ein weiter ist, weiß Naidoo nicht erst, seit er seine Probleme im harten Prophetenalltag mit "Dieser Weg" thematisiert. Schließlich ist "Alles für den Herrn", wie bereits die eine Hälfte des 2002er-Doppelalbums richtigerweise hieß. Und der Herr ist zur Zeit, "Ratzlspatzl" (Ringsgwandl) hin und Sinnsuche her, nicht gerade angesagt.
Aber auch, wenn die Menschen das Originalwort des Herrn nicht mehr lesen und sich von dessen fest angestelltem Personal fernhalten, sie hören die Botschaft doch - und das auch noch millionenfach. Denn "Dieser Weg" und das dazugehörige Album "Telegramm für X" verkaufen sich wie warme Semmeln. Mit dem verdienten Geld ließen sich nicht nur klamme Kirchenkassen füllen, sondern auch die Musikindustrie retten. Aber der Prophet bleibt dem Indie-Verbund SPV treu. Das hätte dazu führen können, daß der Vertriebsweg in die Herzen der Menschen noch steiniger ist als ohnehin schon, aber Naidoo steht längst über den deprimierenden Marktbedingungen. Xavier kann Wasser predigen und selbst Champagner trinken: Weil er sich und das heilige Wort selber vermarktet, bleibt für Universal/BMG kein Cent.
Das Volk hängt aber auch an seinen Lippen - er könnte seine Gebete ohne weiteres auch Frühstücksflockenschachteln beilegen oder bei Hofer verkaufen. Längst kommt der Berg zum Propheten und lauscht den Gleichnissen: "Manche treten dich, manche lieben dich, manche geben sich für dich auf/Manche segnen dich, setz dein Segel nicht, wenn der Wind das Meer aufbraust." Klar, dann reißen die Segel, und das Schiff ist den Gewalten rettungslos ausgeliefert. Also heißt es warten. Worauf? Bei Windstille ist auch nicht gut Segeln, es geht halt einfach nichts vorwärts.
Man muß nicht fortschrittsgläubig sein, um Stillstand zu verabscheuen. Ich frage noch mal: Worauf warten? Xavier, bitte, erhöre mein Flehen und sag es mir, huhu, Xavier, wo bist Du? "Es war nur ein kleiner Augenblick, einen Moment war ich da, danach ging ich einen kleinen Schritt, und dann wurde es mir klar. Dieser Weg wird kein leichter sein." Genau, die Balance zwischen Sturm und Ruhe, Drang und Stillstand, Ebbe und Flut, darauf kommt´s doch an, oder? Aber wer weiß, wie das Leben wirklich funktioniert? Xavier, die Winselstimme des Herrn: "Noch ein paar Schritte und dann war ich da, mit dem Schlüssel zu dieser Tür." In Ewigkeit. Amen.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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