Lily Allen - It´s Not Me, It´s You
EMI (GB 2008)
Countdown läuft: die letzten 50 "Miststücke" - oder, um es mit altem deutschen Liedgut von Michael Holm zu sagen: "Ein Jahr ist keine Ewigkeit". Also laßt uns diese kurze Zeit freudig feiern und in höchsten Tönen jubilieren, wenn sich´s lohnt. Oder im tiefsten Baß brummen, wenn es unerquicklich wird. Sagt Manfred Prescher. 02.02.2009
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
"Fear is a man´s best friend", sang einst der große John Cale - und alle, die es hörten, dachten, daß über ihnen ein Pendel mit messerscharfer Klinge schwebt, dessen Solinger Qualität sie letztlich nicht entgehen können. Genauso müssen Lieder über Angst und Pein sein.
Insofern hat die Engländerin Lily Allen alles falsch gemacht. Ihr "Fear" klingt brav, und selbst das sensibelste Kleinkind wird deshalb nicht von Alpträumen geplagt werden. Sogar das ostdeutsche Sandmännchen, jenes Überbleibsel sozialistischer Pädagogik, wirkt da bedrohlicher. Weil die Songwriterin vollends auf Kompatibilität zu einer Zielgruppe setzt, die es butterweich haben will, nie Filme ohne Happy-End schaut und von Musik nicht im Caleschen Sinne verstört werden will. Wahrscheinlich würden die potentiellen Allen-Hörer die Velvet-Underground-LP "White Light/White Heat" für eine aurale Krankheit halten. Was schade ist, aber eben auch bezeichnend für die Ignoranz vieler Menschen.
Wer sich analog zu Marcus Oehlen fragt, ob Free Jazz heilbar ist oder ob Metallica unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fallen, könnte "The Fear" mögen. Es ist "Adult Pop" im perfekten Sinn: Der Song beginnt mit einem dermaßen folkigen Klampfengeklimper, daß man plötzlich versteht, warum sich Uncle Bob bereits anno ´65 beim Newport-Festival die elektrische Handsäge umschnallte und like a Rolling Stone klingen wollte. Nach diesem Intro läßt sich die Exfreundin von Chemical Brother Ed Simons zu einem Sound-Experiment hinreißen, das gewagter klingt, als es tatsächlich ist: Sie verbindet Alanis Morissette mit den Pet Shop Boys. Das Ganze wird so lange mit dem Studiorührbesen gequirlt, bis eine locker-luftige, Airplay-taugliche Mischung daraus entsteht.
Garniert wird der windelweiche, unaufdringliche Mix mit einem Text, an dem Joan Armatrading ihre Freude hätte - wenn da nicht die Extraprise Ironie wäre, die Lily Allen plötzlich doch aus der Masse der cleveren Stars für Erwachsene herausragen läßt: "Life´s about film stars and less about mothers/It´s all about fast cars cussing each other/But it doesn´t matter cause I´m packing plastic/And that´s what makes my life so fucking fantastic". Warum nur denke ich bei diesen Zeilen an "Bobby Brown" und an die Worte, die direkt vor "Thanks to Freddie" gesungen werden? Freilich ist Frau Allen kein Schweinerüde im Stile eines Frank Zappa, aber auch sie versucht sich an einer Beschreibung gesellschaftlicher Zustände.
Was das alles mit Fear zu tun hat? Fast nichts. Sie ist zwar mit der Gesamtsituation unzufrieden, frustriert von Mammon, Umweltzerstörung und besonders von zwischenmenschlicher Gleichgültigkeit, aber von einem Lösungsansatz, also von Revolution, meinetwegen auch von grünen Reformen, ist weit und breit keine Spur. Sie zählt einfach täglich ihre Sorgen, die sie sich um das Leben, das Universum und den ganzen Rest macht - und weil das so viele sind, betreibt sie die Flucht in die Furcht: "When do you think it will all become clear?/Cause I´m being taken over by the fear". Wahrscheinlich liegt sie jetzt brav unter dem Pendel und wartet in panischer Inbrunst auf das Ende. So gesehen ergibt der niedlich-unaufdringliche Song auch Sinn.
Nächste Woche geht es an dieser Stelle um den Hype des Monats - Glasvegas.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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Kommentare_
Hallo Evolver,
auch wenn Manfred Prescher ungerecht zu Lily Allen ist.. Ich finde es traurig, daß er mit der Kolumne aufhören will. Was besseres kommt sowieso nicht nach. Jeden Montag freu ich mich auf das Miststück.
Gruß Martina
Hallo Martina,
danke für das Lob, aber das Ende aller Miststücke steht fest. Denn ich bin ein alter Sack, dem schon die Zipperlein plagen: Mir fallen zwar nicht die Haare, dafür aber die Ideen aus. Das stimmt zwar nicht, aber bei 200 Miststücken sind so ziemlich alle mal dran gekommen, Und die, die dann noch fehlen, will ich nicht vorkommen lassen. Aber keine Angst, Es soll dann etwas anderes geben.
Manfred