Fraktus - "A.D.A.M."
auf der CD Fraktus - "Millennium Edition"
Manch perfekt erzählte Story ist besser als die Realität; deshalb gibt es ja auch all die John Irvings auf der Welt. Und weil das Leben samt Musikhistorie fad ist, haben drei Hamburger gleich einen Teil davon neu geschrieben - sehr zur Freude von Geschichtenerzähler Manfred Prescher. 19.11.2012
Manche Dinge ändern sich einfach nie: Du wachst morgens auf - und noch bevor sich das Hirn einschaltet, singst du, daß du nur noch die Welt retten mußt oder daß Geld guat brenna tuat. Widerstand ist absolut zwecklos, das Miststück setzt sich in dir fest. Begleitet dich ins Bad, zum Frühstück und in den Job. Manchmal freust du dich, weil dir zufällig ein alter Bekannter durch die Denkmurmel stromert, manchmal ist es dir schlicht peinlich. Wer will schon gern über sieben Brücken gehen oder von Jürgen Drews in den Tag geleitet werden?
In dieser Kolumne geht es um hinterhältige und fiese Lieder, die sich in dir festsetzen.
Lasset uns beten. Gut, so wollte ich unbedingt mal eine Kolumne anfangen. Sonst predige ich ja ausschließlich den Gardinen, aber heute wollte ich euch da draußen ein paar wärmende Worte in den Knappsack legen. Ihr wißt ja, liebe Leser, "in der Kathedrale meines Herzens brennen Kerzen für euch" ...
Was ihr vermutlich nicht wißt, ist der Titels des Films, dem ich dieses Zitat entnommen habe. Aber wozu hat der liebe Gott schließlich Google erfunden? Genau, zum Nachschauen. Etwas, was leider auch nicht Teil eurer Allgemeinbildung ist: Fraktus haben vor 30 Jahren praktisch Techno erfunden - und zwar direkt aus der Verschmelzung von Neuer Deutscher Welle mit Kraftwerk. "Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n auf der Autobahn/Die Fahrt ging von Holzminden nach Oldenburg/Ich hatte die Hand auf deinem Knie/Du hattest die Hand an meiner Knüppelschaltung/Wir fahr'n, fahr'n, fahr’n auf der Autobahn." So wie diesen spontanen Prescher-Mix aus Kraftwerk und Trio muß man sich das vorstellen. Fraktus prägten praktisch alles, von Westbam und Marusha bis zu Scooter. 1983 lösten sie sich auf, nicht ohne vorher den immer noch auf jeder halbwegs gelungenen Raver-Party skandierten Schlachtruf "Oweeeeeeeyoooo" zu erfinden.
Daß Ihr da draußen Fraktus nicht kennt, liegt aber nicht an eurer Blödheit oder eurem individuell fundierten Unwissen, sondern an der nicht zu leugnenden Tatsache, daß uns die Hamburger Herren Bernd Wand, Torsten Bage und Dickie Schubert einen wunderhübschen Riesenbären aufbinden. In ihrer sehr sehenswerten Pseudo-Filmdoku "Fraktus" tun sie so, als wären sie die Urväter jeder Love Parade und hauen dazu Gassenhauer wie "Affe sucht Liebe" oder "A.D.A.M." raus. Doch zurück zum Gebet: Gehet hin und schauet diesen Streifen, lacht, was das Zeug hält, über die aberwitzigen Erlebnisse, die "in echt" nur Ausgeburten dreier recht ausgeprägter Phantasien sind.
Aber unter uns braven Mönchen aus dem Kloster des heiligen St. Vitus: Muß denn alles real sein? Fraktus sind groß, Fraktus sind mächtig, ob es die Band nun gegeben hat oder nicht. Nun ist sie jedenfalls da - und wie so oft haben Menschen sich auch hier bei der Entwicklung etwas von der Natur abgeguckt: Fraktus ist wie ein Schmetterling, erklärt Dickie Schubert im Film. Bage und Wand seien schillernde Flügel, die aber einen Körper, also ihn, bräuchten. Klingt irgendwie logisch. Wer wissen will, wie das sagenumwobene Trio klingt, kann sich die real existierende CD "Fraktus: Millennium Edition" zulegen. Da sind all die Hits darauf, zu denen wir leider nie herumgehopst sind. Übrigens: Wie alle großen Gruppen seit den Beach Boys ist auch ein Comeback von Fraktus jederzeit möglich, auf Tour waren sie ja schon im Herbst. Schließlich wird eine Geschichte ja nicht deshalb zwangsläufig schlecht, weil sie von vorne bis hinten erstunken und erlogen ist.
Bleibt die Frage, was Delmenhorst, Regensburg, Eisenach, Hildesheim, Bielefeld, Osnabrück, Ingolstadt, Magdeburg oder Dinkelsbühl gemeinsam haben. Diese deutschen Städte - und noch ein paar mehr - werden in "A.D.A.M." aufgezählt. Vom Hamburger Metropolenbewohner Schubert aus gesehen, krebsen diese Menschen in den Niederungen von ziemlich kleinen Lebenszusammenhängen, über die der Hanseat genauso locker hinwegschaut wie der Wiener über Stinkenbrunn, Mistelbach oder "lovely Wieselburg", um Fraktus mit Qualtingers "Bundesbahn Blues" zu verknüpfen. Und dann kommt der Refrain, der uns den Stephan "Ich lieb' dich nicht, du liebst mich nicht, aha aha aha" Remmler macht und Fassungslosigkeit nicht nur andeutet: "Warum tun die das?/Warum sind die da?/All die armen Menschen." Genau: Der Hamburger fragt sich, warum die armen Zeitgenossen ihr Dasein in vergleichsweise irrelevanten Orten wie Gütersloh oder Oldenburg fristen. Eine Antwort suchen Fraktus nicht, weil Bevölkerungssoziologie nun mal so ziemlich das Gegenteil von Rave ist. So, Ende der Predigt. Gehet hin im Namen der Dreieinigkeit von Schubert, Wand und Bage. Der Friede dieser Herrn sei mit euch, in Ewigkeit, Party.
Nächste Woche will ich hier das Hohelied der Liebe singen lassen. Und zwar von den Spatzlruther Katzn. Nein, der Prescher lügt mal wieder, ohne mit der Wimper zu zucken. Im nächsten Miststück geht es entweder um Pur, Pink oder Rihanna. Oder um eine Mischung daraus, also um Pupihanna.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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