Die Seer - 1 Tag
Sony BMG (A 2007)
Foto: © Klemens Fellner
Seer? Sind das nicht die rockigen Jungs aus Augsburg? Nein, die nennen sich The Seer. Die hier stammen vom Ende der Welt - in diesem Falle Österreich. Und genauso klingen sie auch, sagt Manfred Prescher. 13.08.2007
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Meine Großmutter, die hauptsächlich für meine Erziehung verantwortlich war, ermahnte mich immer, nicht überheblich zu sein und mich nie über jemanden lustig zu machen. Vor allem nicht, wenn der Betreffende gerade zuhört oder mitliest. Ich könnte also getrost vom hohen Roß runtersteigen und eine Ladung Gift-Rhetorik in den Grundlsee ablassen. Weil´s ja unwahrscheinlich ist, daß ein Seer diese Kolumne liest. Andrerseits habe ich als Deutscher - wenn man davon ausgeht, daß es tatsächlich kollektive Merkmale oder gar sowas wie gemeinsame Schuld gibt - gar keinen Anlaß, mich über die Fans der Gruppe oder über die Kombo selber lustig zu machen. Schließlich ist die Formation auch in den ähnlich holzigen Schädeln vieler Bayern sehr beliebt. Außerdem haben wir Pur, und die sind gar nicht mal so sehr anders. Dazu kommt, daß es einfach ist, auf Phänomene wie Die Seer einzudreschen.
Lustig ist allerdings, daß es im Süden Deutschlands eine fast gleichnamige Band gibt, die relativ erfolgreich und unspektakulär durch die Gegend rockt. Schön ist auch, daß die erfolgreicheren Platten beider Formationen bei Sony BMG herausgekommen sind. Ich kann mir prima vorstellen, wie die PR-Abteilung versehentlich die "Bad Ausseer Volkszeitung" mit Gitarrenbreitseiten und im Gegensatz dazu den "Metal Hammer" mit der vermeintlich heilen Welt von Schlagerfolklore und Adult-Pop konfrontiert. "Zu und zu schön" (Tadellöser & Wolff) ist das.
Natürlich fragt man sich, warum Die Seer in Österreich so erfolgreich sind. Es ist praktisch so, daß deren Platten direkt auf Platz 1 in die Charts einsteigen und diese Position erst Jahre später wieder verlassen. Daher besitzt jeder Einwohner das Gesamtwerk der Gruppe. Oder sogar mehr: Elf Seer-Alben gibt´s bislang, und im Durchschnitt soll jeder Bewohner der Alpenrepublik schätzungsweise 21,8 Platten irgendwelcher Interpreten sein eigen nennen. Davon stammen 15,3 von Den Seern, und das schlägt sogar die legendären Verkaufsrekorde jenes Buches, das man anno Schnupftabak generell an Brautpaare verschenkte, damit die nicht vergessen, ihren ehelichen Pflichten nachzukommen.
Wenn man davon ausgeht, daß zum Beispiel die EVOLVER-Clique und andere aufgeklärte Nachbarn gar keine CD des Massenphänomens besitzen, muß man zwangsläufig annehmen, daß die überzähligen Tonträger und die dazugehörigen Cases anderen Nutzungswünschen zugeführt werden sollen. Vielleicht dienen sie irgendwann als Fahrbahnbelag für die Tauernautobahn? Oder sie werden von braven Bürgern als Geschenke für Gäste aus dem Ausland gekauft. Damit jeder weiß, daß er hier nicht erwünscht ist, und von selber auf den Trichter kommt, das kleine Land mit den ungewöhnlichen (ich schreibe dieses Mal nichts von der "kotelettartigen Form") Abmessungen das nächste Mal großflächig zu umfahren.
Vielleicht liegt der Erfolg Der Seer auch daran, daß - von ein paar verschrobenen EVOLVER-Redakteuren und ihrem Umfeld abgesehen - jeder Österreicher Mitglied der zehnköpfigen Be-Big-Think-Small-Band ist oder zumindest mit den Mitgliedern verwandt? Oder in derselben Schlucht lebt? Was ja wegen des begrenzten Gen-Pools, der dort zur Verfügung steht, auf dasselbe hinausläuft. Und wenn schon nicht ganz Österreich bei Den Seern mitmusiziert, dann doch zumindest jeder, dessen Homebase im Salzkammergut liegt. Man sagt, daß man im Salzkammergut gut lustig sein kann.
Die Seer belegen allerdings, daß man zwar Texte schreiben kann, die klingen, als hätte man nächtelang Wasser in Wein verwandelt, aber trotzdem nicht lustig sind. Wo wir jetzt schon im Salzkammergut sind, kann ich der Welt gleich erklären, warum Die Seer heißen, wie sie heißen, und daß der Name nichts mit "the seer" zu tun hat, es sich also nicht um "Seher" handelt. Ich spanne die Muskeln im linken Arm an, balle die Faust und hole aus: Eigentlich müßte die Formation Der Seer heißen, weil das der Spitzname ihres geistigen Führers Alfred "Fred" Jaklitsch ist. Der Band-Biographie nach (nicht nachzulesen auf www.theseer.de) wird er landauf und landab so genannt, seit er vor Jahr und Tag den weiten Weg von Bad Aussee nach Grundlsee und dorten in den Ortsteil Gößl fand.
Diese elf Kilometer führten ihn zum einen ans Ende der Welt, dorthin, wo es einfach nicht mehr weitergeht und der Legende nach Monty Python bei den Dreharbeiten zu "Der Sinn des Lebens" beinahe von der Erdkante gerutscht wären. Zum anderen gipfelte Freds Extremtour direkt am Grundlsee. Daher ist er ein See-r. Es ist wie beim "Mann aus den Bergen": Er ist der Mann vom See - auch wenn es auf der Welt und sogar in unmittelbarer Nachbarschaft noch viele Berge und Seen gibt. Aber was weiß ein bodenständiger, auf die eigene Scholle bezogener Mensch? Rein goa nix.
Oder eben doch. Mich verwundern Die Seer wirklich - besonders ihr Lied "1 Tag" (oder "1 Tog"). Die wandeln damit tatsächlich auf den Spuren eines Schöngeistes und coolen Genies nicht nur von übersalzkammergutischer, sondern von nachgerade überirdischer Größe, nämlich auf denen David Bowies. Gut, ich will nicht verhehlen, daß die abgeschmackte Mischung aus Moik-Mucke und Austro-Foreigner nie und nimmer auf Ziggys Mist gewachsen sein kann. Dafür ist der Text fast so, als sei er aus Bowies innovativer Berliner Phase. Er schreit also förmlich danach, von Kruder & Dorfmeister in vernünftige musikalische Bahnen geremixt zu werden.
Und diese Lyrics ... Wie heißt es bei "Heroes/Helden" von David Bowie, dessen nuscheliges Deutsch jenseits des Weißwurstäquators deutlich besser zu verstehen ist als das von Freds Singschar: "Ich/Ich glaub´ das zu träumen/Die Mauer/Im Rücken war kalt/Die Schüsse reißen die Luft/Doch wir küssen/Als ob nichts geschieht". Bei Den Seern kommt das naturgemäß etwas beschaulicher daher: "Koa Moment wa zu verliern/Wa nur mehr der oa Tog/Jede Berührung die hätt Sinn/An diesn oan Tog durch di/Gspiar i wer i wirklich bin." Es ist natürlich klar, wie so was enden muß: "Denn i brauch di bis zum geht neama/Wünsch ma an dem Tog da bist du do/Dann sind wir Helden/Nur diesen Tag/Dann sind wir Helden/Dann sind wir Helden/Dann sind wir Helden/Nur diesen Tag." Wer da noch auf die neue Bowie-Platte wartet (die übrigens auch bei Sony BMG erscheinen wird), ist selber schuld.
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
Die Seer - 1 Tag
Sony BMG (A 2007)
Foto: © Klemens Fellner
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Kommentare_
wenn jeder Deutsche soviel und soviel Blödsinn verzapfen würde
dann hätten wir wohl eine Irrenanstalt !
Siehst, sogar mich faszinieren die Leute um Alfred. Eine großartige Band!