Kolumnen_Der Misanthrop: Schickbrillen-Visagen
Schickbrillen -Visagen
Zigarrendunst, Geruch nach billigem Whiskey und ein gewollt klug dreinblickender Endzwanziger mit Filzschonern an den Ellenbogen. "Tja!", sagt er und rückt seine Hornbrille zurecht. 07.05.2004
Als kleiner Junge wollte der Misanthrop immer eine Brille haben. Am liebsten eine schöne Hornbrille, mit möglichst auffallendem Gestell und fragilen Gläsern. Eine Brille, mit der man nach etwas aussieht, ein ordentlicher Sehbehelf, der einem runden Gesicht die würdigen Kanten verleiht. Und so ist diese Folge der Kolumne auch ein Stück Abrechnung mit der eigenen Kindheit. Da dürfen sich die Hobbytherapeuten und NLP-Kursabsolventen unter unserer Leserschaft freuen. Aber nicht zuviel - denn gerade solchen Menschen gönnt man bekanntlich keinerlei Freude im Leben...
Doch kommen wir zur Sache:
Die diesmal einer näheren und wie immer wissenschaftlich objektiven Analyse unterzogenen Typen dürfen auf keiner Party in Theatersalons fehlen. Auf dem Geburtstagsfest der attraktiven neuen Bekannten sind sie obligatorisch, und in der Firma, für die man zu arbeiten gezwungen ist, sitzen sie meist eine Etage höher - kein Mensch weiß warum. Sie sind Schickbrillen-Visagen (das ist übrigens die Kurzform von Schickbrillen-Idiotenvisagen), die heutzutage allgemeingültige Simulation des gemeinen Intellektuellen. Solchen Leuten mit Designeroptik im Gesicht wird bei Empfängen fürsorglich Essen angeboten, ohne daß sie auch nur ein Wort gesagt hätten, das auf Hunger schließen lassen würde. Man fragt sie auch gern um Rat in kulturgeschichtlichen Angelegenheiten, während sie mit der besten Freundin die letzte Folge von "Emergency Room" diskutieren. Sie haben Doppelnamen, tragen meist Kojak-Frisur und Trottelbärtchen und kommen in manchen Fällen sogar mit gezupften Augenbrauen daher - die aber nicht sonderlich auffallen, weil ihr Sehgestell den betreffenden Bereich ohnehin verdeckt.
Die Träger auffallender Brillen sind eigentlich arme Würstchen, die aber von einer diffusen Masse Kulturloser angebetet werden wie Popstars von Teenagern. Ihre optischen Hilfen haben sie vor allem wegen der appellativen Wirkung ausgesucht: "Schaut her, ihr Leut’, ich habe so viel gelesen, daß ich jetzt eine Denkerbrille brauche. Proleten wie ihr braucht hingegen gar keine Brille, weil: Wenn überhaupt, dann lest ihr doch nur die dicken Schlagzeilen der Boulevardpresse. Ha!" Gewöhnliche Brillenträger sind übrigens sehr leicht von Schickbrillen-Visagen zu unterscheiden, weil sie gelegentlich ihre Brille abnehmen. Dann kommt die Schönheit ihres Kopfes, die Weichheit ihrer Gesichtszüge zur Entfaltung. (Nein, Leser, halte ein, das ist natürlich purer Zynismus!) Aber die Schickbrillen-Visagen wissen trotzdem ganz genau, weshalb sie ihr vom Optiker angefertigtes Facelifting nicht einmal abnehmen würden, wenn sie in einem brasilianischen Motel auf der Dienstbotentoilette ihr Haupthaar arrangieren müßten. Sie sind häßlich anzuschauen, schlicht und einfach. Ach ja, schlicht und einfach sind sie auch. Ohne Schickbrille zumindest.
Der Misanthrop hat das naturgegebene Glück, keine Brille zu brauchen. Würde er eine benötigen, dann entschiede er sich für ein metallisches Kassengestell in Verbindung mit Aschenbechergläsern und großen schwarzen Nasenstützen. So läßt einen das gemeine Volk wenigstens in Ruhe. Und die Schickbrillen-Visagen nehmen einen gar nicht wahr, weil sie ohnehin nur das vom Leben sehen, was ihnen ihre Schickbrillen-Designerzeitungen vorsagen. Und das ist eindeutig zu wenig.
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