Kolumnen_Der Misanthrop: Potentielle

Potentielle

Niemand hält Typen aus, die einfach alles können. Wie soll man da erst mit den unerträglichen Möchtegerns dieser widerlichen Art zurechtkommen?    23.09.2002

Zu den besonders unerträglichen unter den insgesamt recht wenig erfreulichen Mitmenschen zählen die Alleskönner. Oder vielmehr die potentiellen Alleskönner. Gunnar Diebermuth ist einer von ihnen. Er ist ein Bekannter des Misanthropen, der mit 36 Jahren sein Studium der Mediavistik geschmissen hat und seitdem als Telefonist in einem Callcenter arbeitet. Als ihm eine halbwegs befreundete Floristin erzählte, daß sie an einem Wettbewerb für Kunststräuße teilgenommen hatte, wollte er gleich die Telefonnummer wissen, unter der man sich für die kommende Austragung bewerben könne, weil er "ab und zu auch mal ziemlich hübsche Feldblumenvariationen" zusammengestellt hätte.

Auf einer Lesereise von Gabriel Garcia Marquez überreichte Gunnar dem Starliteraten eine zweiseitige Kurzgeschichte aus seiner Feder - mit der Bemerkung, das Schreiben sei sein viertes Standbein. So idiotisch wie diese Metapher war auch der übergebene Text. Zu diesem Urteil gelangten selbst Laien mühelos, wenn sie die von Gunnar "gestaltete" Website besuchten, die überwiegend aus falschen Links und brutalem Baukasten-Design bestand. Für dieses Unterhaltungs- und Informationsvakuum ließ Gunnar übrigens Visitenkarten mit der Aufschrift "G. Diebermuth Webdesign. Taste the experience under: http://www..." drucken.

Eine andere Potentielle ist jene Judith, die einst stolz auf ihren Nachnamen verzichtete, weil er "die bürgerlichen Hemmschuhe ihrer ihr selbst fremden Vergangenheit repräsentiert", wie sie auf dem Backcover ihrer selbstgebrannten CD äußert. Der Tonträger enthält 17 deutschsprachige Lieder, die an Celine Dion nach einer sechsmonatigen Kur auf einem Allgäuer Bauernhof erinnern. Aber Judith malt auch; daher befinden sich auf der CD einige Bilddateien mit grobkörnigen Fotos von ihren Verbrechen in Öl und Acryl. Auf Partys pflegt Judith dann zu allem Unglück noch "Body-Performances" aufzuführen, bei denen sie ihre speckigen Hüften mit Marmelade einschmiert und dabei spirituell zum Schlumpf-Goa-Sound Brunftlaute ausstößt. Judith ist gelernte Bürokauffrau und arbeitet mittlerweile bei einer Spedition.

Der Misanthrop fragt sich, warum Versicherungsmakler in ihrem Privatleben nicht einfach nur kegeln oder Fußball spielen können, sondern sich als potentielle Philosophen geben, wieso Pullunderträger aus der New Economy meinen, sie könnten einem Journalisten die Heisenbergsche Unschärferelation erklären, und weswegen Erdkundelehrer unbedingt Karaoke-Shows in Vorstadtkneipen moderieren wollen.

Merke: Der bei seinen Leisten bleibende Schuster ist immer noch der Erträglichere unter all den schwer zu Ertragenden.

Benny Denes

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