Kolumnen_Der Misanthrop: Feinschmecker
Feinschmecker
Kennen Sie Simpel, die sich ungerechtfertigterweise anmaßen, ein Urteil über das von Ihnen in liebevoller Kleinarbeit gekochte Essen abzugeben? Der Misanthrop auch. 10.02.2003
Längst fällig ist die Abrechnung des Misanthropen mit der immer heterogener werdenden Gruppe der Gourmets. Jeder hat so einen im Freundeskreis und fast jeder erwartete das Urteil des Feinschmeckers über das in liebevoller Kleinarbeit gekochte und absolut übertrieben ästhetisch garnierte und servierte Essen. "Aha", lautet meist der erste Kommentar, nachdem der Pseudo-Experte einen heuchlerisch epikureischen Happen in den Mund geführt hat. Dann hört man schon den Puls im Ohr und fragt sich, wie vermessen man sein konnte, die eigene biedere Küchenfertigkeit am international erfahrenen Restaurantkenner zu testen.
Der Misanthrop hatte kürzlich Besuch von einem Pärchen, das im Freundeskreis ob der Tatsache, daß es als Gourmets gilt, häufig bekocht wird. Aus reinem Trotz und vor allem wegen der Unlust, stundenlang am Herd zu stehen, hat der Misanthrop tiefgefrorene Hacksteaks eines Lebensmitteldiscounters mit einem auch dort gekauften Kartoffelbrei gemacht, in den er eine Faust voll dänische Röstzwiebeln pfefferte. Um den Schein zu wahren, benutzte er erstmals die ihm vor Jahren geschenkte "Heimdruckerei"-Software und entwarf Speisekarten.
"Provencalische Fleischvariationen an sämigem Kartoffelmus mit Schalotten" war zu lesen und die übergewichtigen Schmarotzer bekamen große Augen. "Ach und das riecht schon so gut", stellte Madame Gourmette fest, als sie die vom Bratenrauch verpestete Wohnstube betrat. Als ihr Partner seinen ersten Bissen intensiv zerkaut, ostentativ geschmacksnervlich gescannt und heruntergeschluckt hatte, stieß er einen eunuchenhaften Laut aus. "Unglaublich! Das schmeckt sinnlich, einfach geil." Und sie: "Wirklich, total simpel aber es funktioniert! Das hier ist ein ganz großes Essen." Es hätte sich für einen Misanthropen gehört, die beiden über die wahre Entstehungsgeschichte des Essens aufzuklären, doch dafür fehlte an diesem Abend die letzte Courage.
Statt dessen habe ich im Freundeskreis erzählt, wie gut die beiden sich auskennen und daß sie wirklich nicht zu täuschen seien. Dann habe ich hochraffiniert klingende Rezepte aus dem Netz geladen, sie an meine Bekannten geleitet und nun begleite ich Familie Gourmet auf ihrer Fresstour. Misanthropen haben nämlich auch ganz feine Geschmacksnerven.
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