Kolumnen_Der Misanthrop: Alt-68er

Alt- 68er

Wir Unter- oder Knapp-über-Vierzigjährigen sollten uns wirklich schämen. Wir leben von Tag zu Tag dahin, sexuell gleichgültig, unpolitisch und ohne Ziele - echte Versager.    09.08.2004

Ruhe jetzt! Diese Folge ist nicht witzig. Soll sie auch nicht sein - sondern ganz ernst. Wird ja Zeit dafür.

"Die Zeit" fragte schon im August 2003: "Wie kommen die als Dauerjugendliche verschrienen Rebellen mit der unpopulären Rolle als Gruftis zurecht? Wie reagieren sie auf schrumpfende Rentenkassen? Wagen sie, die beim Heiraten und Erziehen alles anders machen wollten, auch am anderen Ende ihrer Biographie einen Aufbruch?" Und sie zitiert den deutschen Politiker Sigmar Gabriel (SPD): "Nichts gegen die 68er, aber sie werden bald 68!"

Sehr schön, wenn auch etwas übertrieben. Denn die revoltierenden Studenten von 1968 sind anno 2004 im Schnitt 57 Jahre alt. Sie haben den Marsch durch die Institutionen erfolgreich absolviert und sich dort gleich erfolgreich festgesetzt, wie sie es eigentlich immer schon vorhatten. Sie sind deutsche Innen- und Außenminister, Universitätsprofessoren und leitende Redakteure. Sie fühlen sich als Katalysatoren des Dekonstruktivismus, des Feminismus und der Postmoderne. Und sie sind heute vor allem eines: unerträgliche Oberlehrer, die selbstgerecht die vermeintliche Trägheit der kulturbestimmenden Generation bemäkeln.

Ja, Leser, jetzt fragen Sie sich: Erst vor kurzem schrieb der Misanthrop einen Brief an die unverbesserliche Jugend, und nun kritisiert er seine eigenen Mentoren? Ja, das tut er tatsächlich. Denn die haschbedingten verbalen Ausdünstungen alternder Dreckshippies können ihm ebensowenig Respekt einflößen wie deren rücksichtslose Gesellschaftspolitik von heute.

Der Misanthrop haßt es, wenn ein gesetzter Alt-68er in ach so unangepaßter Jeans-Uniform und mit Denkerbrille selbstgerecht neue Generationen anleitet: "Du, ihr müßt halt mehr Initiative zeigen. Geht zum Personalrat. Geht auf die Straße. So wie wir das damals gemacht haben!" Er möchte antworten: "Ja, wahrscheinlich um neuen Wein in Tüten einzukaufen."

Aber das darf er nicht, weil dieser spezielle Alt-68er heute eine Führungsposition besetzt und insgeheim einen "Law and order"-Führungsstil pflegt. Eine Bekannte des Misanthropen, die als wissenschaftliche Assistentin an einer Universität arbeit, erlebte vor einigen Wochen ähnliches. Ihr Professor und Vorgesetzter fragte sie nach ihrer Meinung zu Studiengebühren. Als sie antwortete, daß diese ein durchaus sinnvolles Mittel bei der aktuellen Finanzlage deutscher Universitäten seien, holt er aus: "Mensch, diese Studis. Die lassen doch alles mit sich machen. Wir hätten Reifen angezündet. Wären vors Parlament gezogen!" Sie entgegnet - schön menschenfeindlich: "Und Sie ganz bestimmt in der ersten Reihe, sicher!" Daraufhin schlägt der Alt-68er die flache Hand auf den Tisch und brüllt: "Diese Scheiß-Gleichgültigkeit. Ihr macht mich krank!"

Der Misanthrop respektiert die Studentenbewegung von 1968. Unerträglich findet er jedoch das Label "Alt-68er", mit dem sich die verglatzten Revoluzzer von einst heute sogar selbst bezeichnen. Warum sticken diese Mitläufer es sich nicht auf ihr Polohemd oder ihre kalbslederne Aktentasche? Genau: weil ihre Löckchen, die feinen Mokassins und der Ein-Joint-pro-Jahr Sinnbild genug sind. Die meisten von ihnen haben sich hochdotierte Jobs gesichert, haben heute die Möglichkeit, Ideologie und Wissen zu vermitteln. Alt-95er wie der Misanthrop dürfen das bislang nicht. Oder doch? Fangen wir gleich mit der Moralpredigt an: Immer locker bleiben, nur bei Grün über die Ampel gehen und nicht herumvögeln! Verstanden?

Die Ablösung steht vor der Tür.

Benny Denes

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