Viennale 2011
Kino_Viennale 2011/Journal I
Das Schweigen der Männer
Teil eins der 2011er-Edition des alljährlichen Viennale-Journals im EVOLVER, oder: Was kann man sich mehr wünschen von einem Filmfestival, als daß es gleich mit zwei Großtaten loslegt? Vorhang auf für "Drive" und "The Artist". 25.10.2011
Aktion und Reaktion, Bewegung und Gegenbewegung: Es bedarf noch nicht einmal besonderen Spürsinns, um diese aus einer eher zufälligen terminlichen Kollision heraus entstandene Filmkombination als so etwas wie ein größtmögliches Gegensatzpaar zu erkennen. Eine Woche, bevor Hollywoods Alpha-Männchen Steven Spielberg und Peter Jackson mit ihrer "Tim & Struppi"-Adaption mit allem nur zur Verfügung stehendem Technik-Tamtam – von Performance Capture bis hin zur obligatorischen Zusatzbrillen-Drittdimension – durch die Lichtspielhäuser der Nation fegen werden, lief am ersten Viennale-Tag im Künstlerhauskino die französische Produktion The Artist.
Der große Cannes-Abräumer dieses Jahres ist am komplett konträren Ende des cinematographischen Spektrums anzusiedeln: ein schwarz-weißer Stummfilm im kaum noch verwendeten 4:3-Format. Es wäre jedoch verfehlt, Regisseur Michel Hazanavicius schamlose Zitierwut und/oder unreflektierten Quentinismus vorzuwerfen. Schließlich schafft er es in einem nicht unriskanten Manöver, Inhalt und Aufbereitung in einen anregenden Reibungsprozeß treten zu lassen: Hazanavicius beschreibt mit den Mitteln des Silent Movie nämlich den Niedergang desselben. Sinnbildlich dafür steht die Stummfilm-Größe George Valentin (kongenial chargierend dargestellt vom französischen Komiker Jean Dujardin), die aus falsch verstandenem Stolz und Gefallsucht die Zeichen – oder besser: Töne – der Zeit nicht erkennt und somit unweigerlich ihren Abstieg beschleunigt, während Love Interest/Protégé Peppy Miller (bezaubernd: Bérénice Bejo) die hereinbrechende Ära des Tonfilms dazu nutzt, um sich vom Starlet zum Star einer neuen Epoche zu mausern.
Eine schwermütige Charakterstudie ist "The Artist" aber mitnichten geworden – dafür sorgt allein die fast schon unverschämte Leichtigkeit der Inszenierung, die das große ABC des Stummfilms perfekt für sich zu adaptieren weiß: den paßgenauen Orchester-Score, das genre-immanente Overacting, die unvermeidlichen Schrifttafeln, um nur die augen- und ohrenscheinlichsten Stilmittel zu nennen. Es ist wohl das größte Kompliment an diese Liebesbekundung an Old Hollywood, diese charmante und wunderbar unironische Hommage, die dennoch auch auf mehreren Metaebenen zu funktionieren weiß, wenn einem wie dem Schreiber dieser Zeilen während des Schauens einfach unweigerlich die Sprache wegbleibt.
Ebenfalls kein Freund großer Worte ist die Hauptfigur eines weiteren Cannes-Preisträgerfilms im Viennale-Programm. Daß das heuer an der Cote d’Azur ausgezeichnete dänische Regie-Enfant-terrible Nicolas Winding Refn gerne und vor allem wirkungsmächtig Genre-Grenzen transzendiert, dürfte seit seiner "Pusher"-Trilogie, "Valhalla Rising" oder "Bronson" hinlänglich bekannt sein. So zur Perfektion gebracht wie in Drive hat er seine radikale filmische Vision aber noch nie.
Der von Ryan Gosling mit stoischer Wucht gespielte Antiheld kommt in dieser exzellenten Film-Noir-Variation nicht nur ohne Namen aus, sondern auch so gut wie ohne Worte. Er wird eben in erster Linie fürs wagemutige Auto-durch-die-Gegend-Kutschieren bezahlt (ganz gleich, ob’s Stunts oder Verbrechertransporte sind) und nicht fürs Fragenstellen. Damit fährt er allerdings nur so lange gut, bis er sich in die fesche Nachbarin (Carey Mulligan) verschaut und daraufhin eine Entscheidung trifft, die eine Kette von äußerst unerfreulichen Ereignissen nach sich zieht.
So weit, so bekannt, so abgelutscht? Mitnichten. Allein schon die gut zehnminütige Eröffnungssequenz ist ein dermaßen meisterlich choreographierter Adrenalinkick, daß man sich ernsthaft fragen muß, wie sich vermeintliche Konkurrenzprodukte noch ohne Scham fast und furious nennen können. Und die Intensität läßt nicht mehr nach – getrieben vom göttlichen Score von Cliff Martinez, der betörenden Kameraarbeit von Newton Thomas Sigel und der bis in die Nebenrollen exquisiten Darstellerriege (Bryan Cranston, Albert Brooks und Ron Perlman seien hier auch noch gelobt) geht "Drive" auch in den restlichen eineinhalb Stunden nicht mehr vom Gas runter.
Ganz im Gegenteil muß zur gerechten Abwägung der Eskalation der Geschehnisse mitunter schon ein Film mit einem weiteren von God’s lonely men am Steuer als Referenzquelle herhalten. Letztendlich verhält sich "Taxi Driver" zu "Drive" aber wie die Städte, in denen sie spielen, zueinander: im Gegensatz zum Moloch New York besteht im sonnen- oder zumindest neonlichtdurchfluteten Los Angeles immer auch noch ein Hauch von Hoffnung – selbst wenn man das mit einem blutigen Hammer in der Hand nicht so recht wahrhaben will. Leben und sterben in LA also, aber dann, wenn unser Held endlich seine Sprache findet, auch: You talking to me – mit Ausrufe- statt Fragezeichen.
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