Kino_Sicko

Der amerikanische Patient

Der Berufspolemiker Michael Moore ist wieder da. In seiner neuen sogenannten Doku knöpft sich der streitbare Filmemacher die Mißstände im US-Gesundheitssystem und die menschenverachtenden Methoden der privaten Krankenversicherer vor - mit nicht immer befriedigenden Resultaten.    21.09.2007

War es nach seiner vielbeachteten "Shame on you, Mr. Bush!"-Oscar-Dankesrede doch merklich ruhiger um Michael Moore geworden, dann lag das daran, daß sich der Koloß aus Michigan bereits mitten in der Arbeit an seinem neuen Filmprojekt "Sicko" befand. Nach der Generalabrechnung mit den laxen US-Waffengesetzen und den perfiden Machenschaften der Waffenlobby in "Bowling für Columbine" hatte der streitbare Filmemacher unter dem Titel "Fahrenheit 9/11" eine satirische Breitseite gegen den nicht minder streitbaren amtierenden US-Präsidenten abgefeuert, mit dem ihn bekanntlich eine Art Haßliebe verbindet. Beide - so scheint es - brauchen einander. So wie Faust nicht ohne Mephisto und Ernie nicht ohne Bert denkbar sind, so wird George W. Bushs Amtszeit für immer untrennbar mit Moores polemischen Schmähattacken verbunden bleiben.

Ganz abgesehen davon, ob man Moores zuweilen penetrante Form der Selbstdarstellung mag oder nicht, seine Dokumentationen, die diese Bezeichnung eigentlich nicht verdienen, waren zumindest unterhaltsam, bissig und pointiert formuliert. Auch wenn er dabei eigentlich nichts Neues zu erzählen hatte - um zu wissen, daß George W. Bush keine intellektuelle Leuchte ist, bedarf es keiner zweistündigen Abhandlung -, kommt man nicht umhin, ihm einen äußerst versierten Umgang mit den Waffen der Satire zu bescheinigen. Seine Fähigkeiten zur Demaskierung einer Person oder eines ganzen Systems blitzen auch in "Sicko" immer wieder auf, wobei jedoch der Versuch erkennbar wird, deutlich ernster und seriöser zu erscheinen.

 

Das dürfte einerseits dem Thema geschuldet sein. Ein Film über das amerikanische Gesundheitssystem eignet sich halt im Unterschied zu einem zornigen Anti-Bush-Statement wie "Fahrenheit 9/11" weit weniger für Späße auf Kosten dritter. Zum anderen widerspricht bereits Moores Ansatz, sich dem eher trockenen Sujet über die Schilderung teilweise erschütternder Einzelschicksale zu nähern, dem Abbrennen eines komödiantischen Feuerwerks. Es sind Geschichten wie die einer jungen Mutter, deren Kind sterben mußte, weil ihre Krankenversicherung von ihr verlangte, in ein anderes, weiter entferntes Krankenhaus zu fahren, die sprachlos und wütend machen. Oder: Ein Mann wird nach einem Arbeitsunfall mit einer Kreissäge vor die zynische Wahl gestellt, sich für 60.000 Dollar den Mittel- oder für 12.000 Dollar den Ringfinger wieder annähen zu lassen. Unglaublich, aber wahr.

Schnell wird deutlich, worauf Moore abzielt, wenn er die pervertierten Auswüchse des amerikanischen Gesundheitssystems an den Pranger stellt. Für ihn liegt der Keim allen Übels in einer während Nixons Amtszeit getroffenen Entscheidung, die den privaten Krankenversicherungen gewissermaßen das Spielfeld überließ. Fortan waren sie es, die die Regeln aufstellten. Und diese Firmen orientieren sich weder am Gemeinwohl noch an einer für jedermann erschwinglichen Gesundheitsversorgung, sondern fühlen sich als Unternehmen allein der Maximierung ihres Gewinns verpflichtet. Was aus betriebswirtschaftlicher Sicht richtig und vernünftig erscheint, ist aus der Sicht jedes Betroffenen, jedes Patienten, der sich keine Krankenversicherung leisten kann, eine Katastrophe. Wie ein Insider berichtet, setzen die Versicherungen alles daran, die Zahlung einer medizinisch notwendigen Leistung zu verweigern respektive hinauszuzögern oder - wenn es dafür bereits zu spät ist - sich nachträglich des Versicherten zu "entledigen".

Es bedarf keines weiteren Kommentars, um zu erkennen, daß hier etwas grundsätzlich falsch läuft. Die von Moore ausgewählten Geschichten, obgleich sie zugegeben extrem und damit keineswegs repräsentativ sein mögen, legen den Finger tief in die Wunde des amerikanischen Patienten. Dabei decken sie ganz nebenbei eine ganz andere "Achse des Bösen" auf, die sich von den Versicherungskonzernen über die Krankenhausunternehmen bis hin zu "Big Pharma" erstreckt. In diesem Minenfeld bewegt sich Moore mit der für ihn typischen Mischung aus schelmischer Neugier und gespielter Ahnungslosigkeit.

Weil er es dieses Mal jedoch mit einem ganzen System und keinem einzelnen Antagonisten aus Fleisch und Blut zu tun hat, den er in der direkten Konfrontation oder über zusammengeschnipselte Archivaufnahmen der Lächerlichkeit preisgeben kann, mangelt es "Sicko" an echten Reibungspunkten. Die meisten Menschen, die Moore zu Wort kommen läßt, haben Schreckliches erlitten. Sogar für den "Hitman", jenen Insider, der im Auftrag der Versicherungen die Kundenverträge nach Unstimmigkeiten durchleuchtet, will man keine wirkliche Antipathie aufbringen.

 

Moore war sich wohl bewußt, daß ein solches Thema eine personelle Zuspitzung nur sehr eingeschränkt zuläßt. Und so entschied er sich für einen Trip rund um den Globus, vermutlich in dem Glauben, der mehrmalige Ortswechsel würde das mitunter spürbare satirische Vakuum vergessen machen. Für ihn sind Länder wie Großbritannien, Kanada oder Frankreich leuchtende Vorbilder dafür, wie ein Gesundheitswesen organisiert und aufgebaut sein sollte. Daß auch dort vieles im argen liegt, wird wohlweislich ausgeblendet. Moore bleibt eben auch in dieser Hinsicht seinem Stil treu, wonach nur das gezeigt wird, was ihm und seiner Argumentation letztlich nützt.

Das ist allerdings weniger schlimm, als es zunächst klingt. Immerhin ist Moore dafür bekannt, daß er in seinen "Dokumentationen" stets nur einen ganz bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit präsentiert. Ärgerlich wird es erst, wenn er mit einer Gruppe 9/11-Helfer, denen in den USA die notwendige medizinische Behandlung verweigert wurde, das diktatorisch regierte Kuba besucht, wo sie umgehend von Castros Propaganda vereinnahmt werden. Das dort skizzierte idealisierte Bild Kubas spielt nur Moores Gegnern in die Hände, da es nachträglich all das entwertet, was der Film zuvor richtigerweise an Mißständen im amerikanischen Gesundheitssystem benannt hat.

Marcus Wessel

Sicko

ØØØ


USA 2007

116 Min.

Regie: Michael Moore

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