Video_Im Glaskäfig
Der Mann in der Eisernen Lunge
Lange Zeit konnte man über Agustí Villarongas verstörende Geschichte um die Beziehung zwischen einem alten Nazi und einem Jüngling maximal Artikel lesen. Das deutsche Label Bildstörung legte jetzt eine Veröffentlichung vor, die den bisherigen US-Release mühelos in den Schatten stellt. EVOLVER-Gastautor Hans Langsteiner hat sie sich angesehen.
03.04.2009
Dieser Film ist ein Geheimtip, mehr noch, "Tras cel cristal" ist ein echter Mythos. Ein Mythos, der sich weit herumgesprochen hat: Vor langen Jahren lag in einem heute nicht mehr existenten Wiener Programmkino ein Gästebuch mit Wunschfilmen auf - der darin meistgenannte Titel war der spanische Horrorfilm "Tras el cristal", den bis dahin kaum jemand kannte. Seit seiner Premiere auf der Berlinale 1986 war der Film in Österreich nur einmal im Rahmen der Viennale aufgeführt worden. Jetzt liegt er unter dem deutschen Titel "Im Glaskäfig" in einer mustergültig edierten DVD-Edition vor.
"Tras el cristal", um beim Originaltitel zu bleiben, ist das Kinodebüt des heute 56jährigen, aus Mallorca stammenden Regisseurs Agustí Villaronga Riutort. Es ist ein Debüt, das wahrlich kein Tabu scheut: KZ-Gräuel und Homoerotik, Pädophilie und Folter sind die Themen des Films, der von billigem Exploitation-Kino dennoch Lichtjahre weit entfernt ist.
In einem weitläufigen Althaus liegt ein alter Mann in einer Eisernen Lunge. Es ist der deutsche KZ-Arzt Klaus, der einst sexuell grundierte Menschenversuche an jungen Buben durchgeführt hatte; ein Augenzeuge solcher Szenen verschafft sich jetzt, lange nach Kriegsende, als Pfleger Zutritt in das Refugium des kranken KZ-Arztes. Bald entwickelt sich ein von Machtspielen, Todesdrohungen und Homosexualität geprägtes Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem athletischen Todesengel und dem faszinierten Wrack in der Eisernen Lunge ...
Es zählt zu den nicht geringen Verdiensten von Villarongas Inszenierung, daß sie die künstlerische Kontrolle über diesen bizarren Plot keinen Augenblick verliert. Woraus Hollywood, wenn überhaupt, ein schräges Horrorstück à la "Apt Pupil" ("Der Musterschüler"; 1998, Regie: Bryan Singer) gemacht hätte, das gerät hier zur leise-präzisen, klaustrophobisch dichten Studie über die Faszination des Bösen, bei der man an Viscontis "Die Verdammten" ebenso denken muß wie an den berühmt-berüchtigten "Nachtportier" Liliana Cavanis. "Tras el cristal" ist einer jener Filme, die dem Monströsen im Faschismus gerade durch ihre eigene Monströsität Rechnung tragen und ihn dadurch womöglich genauer treffen als all die gut gemeinten, "geschmackvollen" Faschismus-Studien, die - vom "Vorleser" bis zu "Operation Walküre" - gerade wieder Konjunktur haben.
Das vielversprechende neue deutsche Label Bildstörung legt Villarongas Film in einer mustergültigen DVD-Edition vor. Das deutsch untertitelte spanische Original wird durch Interviews und einen Audiokommentar des Regisseurs ergänzt, der das Verständnis des Films in der Tat erweitert und erleichtert. Villaronga nennt hier die Biographie von Gilles de Rais als Inspiration des Films, bezeichnet ihn im Kern als Liebesgeschichte und spricht auch von den enormen praktischen Schwierigkeiten, die sich dem Dreh entgegenstellten. So mußten Teile des Schauplatzes im Studio neu nachgebaut werden, als der Mietvertrag mit dem Besitzer des Hauses noch vor Drehschluß endete. Immer wieder verblüffend: wie entspannt und heiter die Atmosphäre gerade beim Drehen der ungeheuerlichsten Szenen gewesen sein mußte - ein Phänomen, das sich in jüngerer Zeit etwa auch im "Making of" des Folterfilms "Hostel" beobachten ließ.
Insgesamt darf man hier von der überfälligen Erstveröffentlichung (Anm. der Red.: innerhalb Europas; in den USA zeichnet Cult Epics für den Release verantwortlich.) eines ungeheuerlichen Meisterwerks sprechen. "Tras el cristal" ist einer der wenigen Filme, die ihren eigenen Hype noch übertreffen. Dringendste Empfehlung.
Hans Langsteiner
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