Video_Take Shelter
Im Auge des Sturms
Stürmisches Seelenleben: Der auf mental derangierte Einzelgänger spezialisierte Michael Shannon läuft in Jeff Nichols "Take Shelter" als von apokalyptischen Visionen geplagter Bauarbeiter zur Höchstform auf.
22.08.2012
Curtis LaForches (Michael Shannon) Leben verläuft in geordneten Bahnen. Mit seiner Frau Samantha (Jessica Chastain) ist er glücklich; die gemeinsame taubstumme Tochter Hannah (Tova Stewart) bildet das ruhige, unschuldige Zentrum der Kleinfamilie. Im Team mit Freund Dewart (Shea Whigham) verrichtet Curtis ehrliche Schwerarbeit am Bau. Die LaForches leben in reibungsloser Alltagsroutine, vermeiden finanzielle Risikosituationen, fassen aber sehr wohl eine Operation für die kleine Hannah ins Auge.
Dafür spart das ansonsten sorgenfreie Ehepaar, als Curtis plötzlich von einer Serie verstörender Alpträume heimgesucht wird. In denen wenden sich nicht nur Mutter Natur in Form schwerer Unwetter, sondern auch die Menschen, die er liebt, gegen ihn. Es sind private Apokalypsen, die Curtis Nacht um Nacht allein durchzustehen hat. Durch diese Untergangsszenarien gerät die Welt des bislang friedfertigen, verantwortungsvollen, aber nun geschwächten und gereizten Familienvaters langsam aus den Fugen. Zudem hegt Curtis einen niederschmetternden Verdacht. Seine Mutter (Kathy Baker) ist vor Jahren an Schizophrenie erkrankt und lebt seither in einem Heim. Verliert nun auch der Sohn den Verstand? Oder ist er der einzige, der die Vorboten einer nahenden, umfassenden Katastrophe mitbekommt?
Das schlagartige Vordringen des Unfaßbaren in das Leben eines rechtschaffenen Mannes wird in Jeff Nichols "Take Shelter" gekonnt durchexerziert. Die Alpträume bahnen sich ihren Weg in LaForches Realität. Nur von ihm wahrgenommenes infernalisches Donnergrollen und unnatürlich formierte Vogelschwärme lassen den Arbeiter auch untertags verzweifeln. Curtis schöpft aus seinen beruflichen Kenntnissen und schreitet zur Tat: Unter Umgehung firmeninterner Bestimmungen baut er den alten Tornadoschutzbunker in seinem Garten zu einer kleinen Festung aus. Selbst als er in berufliche, finanzielle und eheliche Turbulenzen gerät, hält Curtis an seinem Plan fest, für den totalen Untergang gerüstet zu sein.
Der hünenhafte Michael Shannon hat sich in den vergangenen Jahren in Hollywood als Fachmann für tickende Zeitbomben etabliert. In Norman Jewisons Adaption des gefeierten Bühnenstücks "Bug" (2006) trieb er zusammen mit Ashley Judd allerhand Abseitiges in einem Motelzimmer; sein kurzer, aber verstörender Aufritt in dem prämierten Ehedrama "Zeiten des Aufruhrs" (2008) bleibt ebenso erinnerungswürdig. Auch im TV feiert Shannon aktuell Erfolge: Als Ermittler und religiöser Fanatiker Nelson Van Alden spielt er eine tragende Rolle in Terence Winters meisterlichem Serien-Hit "Boardwalk Empire".
Jeff Nichols hat seinem Lieblingsdarsteller Shannon die Rolle des Curtis LaForche praktisch auf den Leib geschrieben. LaForches Anstrengungen, der vermeintlich feindlich gesinnten Umwelt mit Hilfe seines aufgerüsteten Gartenbunkers Einhalt zu gebieten, haben es in sich. Obsessiv stürzt er sich auf die Errichtung dieser letzten Zuflucht und zugleich in einen Wettlauf gegen die Zeit.
Das Unterfangen, die unheimliche Metamorphose des Bauarbeiters auszuloten, nimmt Nichols durch Einstreuung Hitchcock-artiger Schockmomente in Angriff. Die mögen zwar ein wenig plakativ wirken, sind aber wohl plaziert und in ihrer Gesamtheit wirkungsvoll. Nichols reißt seinen unauffälligen Protagonisten aus seinem gesellschaftlichen Umfeld. Der fürsorgliche Vater und fleißige Arbeiter, der doch nur Unheil von seiner Familie und sich selbst abwenden möchte, wird zum Paria.
Subtile Parabel, Mystery-Drama, Ehekrisenfilm - "Take Shelter" ist all dies; vor allem aber vollendete Gänsehaut-Unterhaltung, zum (Alp-)Träumen.
Dietmar Wohlfart
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