Video_Lärm & Wut
... denn sie wissen nicht, was sie tun
Perspektivlosigkeit und Jugendkriminalität - keine Kinder des 21. Jahrhunderts. Bereits 1988 widmete sich Jean-Claude Brisseau in seinem zweiten Spielfilm der sozialen Verwahrlosung in den Pariser Banlieues. Heraus kam ein so betrübendes wie vergnügliches Sozialdrama mit Ansätzen von Arthouse, das immer noch aktuell ist.
11.10.2011
Trist, trostlos und damit so hoffnungs- wie perspektivlos. So werden die französischen Banlieues, die vorstädtischen Plattenbausiedlungen mit ihren Sozialwohnungen, in denen viele Menschen mit Migrationshintergrund leben, oft wahrgenommen. Laut der öffentlichen Meinung findet sich hier auch der Ursprung für Klein- und Jugendkriminalität.
Hierzu hat auch das französische Kino beigetragen, mit Beiträgen wie "From Paris With Love", "Lascars" oder am bekanntesten wohl in Mathieu Kassovitz' "Hass". Daß Jean-Claude Bisseaus "Lärm & Wut", der sieben Jahre vor Kassovitz' Debütfilm erschien, sich ebenfalls - und seinerzeit sogar originär - dieser Themen angenommen hat, wird dabei oft vergessen.
Brisseau, der selbst in den Banlieues als Französischlehrer angestellt war, arbeitete eigene soziale Erfahrungen in sein Drehbuch ein, das bereits 1977 entstand. Ende der achtziger Jahre wurde die Jugendkriminalität sozialpolitisch noch nicht so wahrgenommen, wie es vielleicht nötig gewesen wäre. Rückblickend enthält "Lärm & Wut" viele Merkmale, derer sich speziell das französische Kino mit seinen Banlieue-Settings seither regelmäßig bedient.
Dabei ist die übergreifende Thematik der sozialen Verwahrlosung der Jugend keine exklusiv französische, sondern scheint - in Anbetracht der Ereignisse dieses Jahr in Großbritannien - ein konstanter Sozialfaktor zu sein.
In diese Welt wird zu Beginn nun der 13-jährige Bruno (Vincent Gasperitsch) geworfen, als er nach dem Tod seiner Großmutter zu seiner Mutter in eine der Banlieues von Paris zieht. In Begleitung eines Zeisigs als einzigem Freund, erwartet ihn das Chaos bereits am Hauseingang. Die Scheiben sind eingeworfen, im Treppenhaus steckt der Nachbarsjunge Jean-Roger (François Négret) gerade die Türmatten in Brand. In den eigenen vier Wänden sieht es kaum besser aus.
Dort erwartet ihn keine liebende Mutter, sondern lediglich eine handgeschriebene Nachricht. Hier zeigt sich bereits eines der Leitmotive des Films, nämlich das der abwesenden Eltern. Während Jean-Roger für seinen herrisch-diktatorischen Vater Marcel (Bruno Cremer) nur Luft ist, zeigt Brunos Mutter den gesamten Film hindurch nicht ein Mal Präsenz. Welcher Arbeit sie genau nachgeht, bleibt offen, mit Bruno kommuniziert sie jedenfalls nur über Briefnachrichten.
Während Bruno sich als passive Figur mit seiner Umwelt abfindet, ist Jean-Roger der aktivere Jugendliche. Sein anarchisches Verhalten hat er vom Vater übernommen, dem er begeistert nacheifert. Da werden Tiere gequält, Obdachlose angezündet oder die Lehrerin belästigt. Aufmerksamkeit schenkt Jean-Roger jedoch nur das Schulrektorat, während sich Vater Marcel mehr um seinen Erstgeborenen Thierry sorgt, der dem kriminellen Leben abschwören will. Denn der hat eine erfolgreiche Freundin, eine Arbeit und damit eine Zukunft - nur eben nicht mehr in der Banlieue.
Für Marcel stellt er mit seinem Wunsch, Teil der (sozialen) Gesellschaft zu sein, einen "Sklaven" dar. In einem offenen Gespräch berichtet der Vater von seinen Kriegserlebnissen. Dabei geht es zwar um Militärisches, wenn er dann jedoch sagt "Es wird immer Krieg geben", hat das zugleich auch sozialpolitischen Charakter. Für diese Leute, die ihn in den Krieg geschickt haben, reißt er sich nicht mehr den Arsch auf.
Krieg herrscht inzwischen auch im Mikrokosmos der Banlieues unter den Gangs, ebenso wie im Makrokomsos Frankreich in ideologischer Form. Als die Polizei in einer Szene versucht, eine Auseinandersetzung zweier Banden zu unterbinden, wird sie mit Molotow-Cocktails zurückgetrieben und verjagt. Ähnlich wie das Rektorat in Bezug auf Jean-Roger, entziehen sich auch die Banlieues immer mehr der staatlichen Kontrolle.
"Wer diese Welt nicht kennt, findet das unglaubwürdig", sagt Jean-Claude Brisseau im Making Of. Und in der Tat hat es etwas von einer schlechten US-Komödie, wenn sich Jean-Roger im Unterricht von einer Klassenkameradin oral befriedigen läßt, oder sein Vater einen selbstgebauten Schießstand im Vorzimmer installiert hat. Gerade letztere Absurdität scheint - zumindest nach Brisseaus Aussagen - damals mehr Regel denn Ausnahme gewesen zu sein.
Insofern ist Jean-Roger, die zumindet von ihren Handlungen her unsympathischste Figur, im Grunde der tragischste Charakter in "Lärm & Wut". Selbst als sich der Bruder von der Familie abwendet, bleibt sein Schatten noch zu groß, als daß Jean-Roger selbst für den Vater darin zu erkennen wäre. Und auch in der Schule richtet sich der fürsorgliche Blick eher auf Bruno, denn ihn selbst. Dabei ist es überaus bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit Jean-Roger sich des Neuankömmlings annimmt und sich von ihm beeinflussen läßt.
Aufmerksamkeit erfährt er nur bei der Jugendbande des Viertels, wo er durch sein enormes Gewaltpotential auffällt. Etwas plakativ, wenn auch wohl nicht gänzlich unakkurat, stellt Brisseau hier die Entwicklung einer Gewaltspirale durch elterliche Vernachlässigung in den Mittelpunkt. Zugleich jedoch auch, wie die Entwicklung von Thierry deutlich macht, daß ein Ausweg aus dieser Spirale der Banlieues nicht unmöglich ist.
Bei Bruno wiederum ist das Fehlen familiärer Zuwendung noch eklatanter. Vom Vater erfahren wir nichts, die Mutter schob ihn damals wohl aus beruflichen Gründen zur Großmutter ab. Nun ist er auf sich allein gestellt, und auch schulisch etwas hintennach. Erst seine engagierte Klassenlehrerin (Fabienne Babe) kümmert sich um ihn. Als er in einer Szene "Caspar Hauser singt" von Paul Verlaine aufsagen darf, merkt man, wie sehr ihn dieser Text selbst betrifft.
Wie die Figur im Gedicht kam Bruno als Waise - wenn man seine Großmutter als alleinige Erzieherin sieht - in die Stadt. Männer - in diesem Fall die seiner alten Schule - fanden, er sei nicht klug. "Kam ich zu früh, kam ich zu spät in diese Welt voll herber Trauer?", heißt es im Gedicht, und das gilt im Grunde auch für Bruno selbst. Außer seinem Zeisig (und einer herbeiphantasierten, sexuell konnotierten Frauenfigur) erscheint sein Leben leer.
Letztlich führt die elterliche Vernachlässigung für nahezu alle Figuren zu einem dramatischen Ende von shakespeareschem Außmaß. Als Verursacher läßt sich indirekt die Banlieue und damit der Staat ausmachen, von dem sich auch Marcel längst abgewandt hat.
"Was soll mir, ach, des Lebens Dauer?", schrieb Verlaine quasi den Banlieue-Anwohnern aus dem Herzen. Sie haben eigentlich nichts, für das es sich zu Leben lohnt. Leute mit Weitblick wie Thierry werden abschätzig betrachtet, auch der Versuch, über Bildung einen Ausweg zu finden, sabotiert und unterminiert.
Und dennoch, wenn auch für einen hohen Preis, präsentiert Brisseau dem Zuschauer am Ende eine charakterliche Katharsis, die vielleicht nur genau so, mit diesen Konsequenzen, eintreten konnte. Selbst wenn etwas trist und trostlos ist, muß es also nicht gleichzeitig ohne Hoffnung und Perspektive sein.
Florian Lieb
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