Video_High Tension

Schluß mit lustig!

Regisseur Alexandre Aja ist gerade 26 Jahre alt und weiß bereits, wie man dem Publikum den Schweiß auf die Stirn treibt. Da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht!    09.03.2005

Marie (Cécile De France) und Alex (Maïwenn Le Besco), zwei junge Studentinnen fahren aufs Land um dort für eine Prüfung zu lernen. Im Schoße von Alex´ Familie will man die Ruhe genießen und ein wenig vom Alltagsstreß loskommen. Während sie das kleine renovierte Bauernhaus mitten im Nirgendwo betreten und nach einer herzlichen Begrüßung ihre Zimmer beziehen, hält ein alter, schmuddeliger Kleinbus vor dem Grundstück. Darin sitzt eine nicht näher erkennbare männliche Gestalt, die sich mit dem abgeschnittenen Kopf einer Frau befriedigt und ihn nach getaner Arbeit ungeniert aus dem Fenster schmeißt.

Als die Nacht hereinbricht, ist es mit der vermeintlichen Glückseligkeit vorbei, denn der irre Killer will sich mit den Bewohnern unterhalten. Ganz aus der Nähe, versteht sich. Für Alex und Marie beginnt eine Spritztour in die Abgründe der menschlichen Psyche, wie sie es sich in ihren schlimmsten Vorstellungen nicht ausmalen hätten können. Denn Killer kennen bekanntlich keine Gnade und so geht es zuallererst Alex´ Familie inklusive kleinem Bruder an den Kragen, während sie gefesselt in ihrem Bettchen kauert. Nur Marie hat der Irre übersehen ...

Als er Alex in seinen Lieferwagen hievt, um mit ihr in sein kleines Höllenkabinett zu fahren, heftet sie sich an seine Fersen.

Was Regisseur Alexandre Aja hier auf sein Publikum losläßt, hat man in dieser Form schon lange nicht mehr erlebt. Seine atmosphärische "No Mercy"-Zelluloid-Bestie fräst sich einem ins Hirn und spielt mit den konditionierten Erwartungshaltungen des seicht gewordenen Horror-Genres, um dann die entsprechenden Schalter umzulegen. Selbst mit ihren roten Schuhen käme Klein-Dorothy hier nicht weit, denn der böse Killer (natürlich dargestellt von "Menscheinfeind" Philippe Nahon), würde ihr wahrscheinlich die süßen Beinchen abhacken und sie samt Vogelscheuche, Zinnman und dem feigen Löwen schmutzig grinsend mit Benzin übergießen.

 

Welche Filmemacher Aja dabei als Inspiration dienten, liegt auf der Hand: Großmeister Wes Craven (allerdings in der Prä-"Nightmare"-Phase) und Tobe Hooper (nicht vergessen: "The Saw is Family"!). Allerdings hat er seinen Bastard weit professioneller und aufwendiger verpackt, als es den beiden Herrschaften zu ihren Zeiten, allein schon aufgrund des damaligen Budgets, möglich war.

Interessanterweise gab es in den letzten Jahren vermehrt Versuche das Genre des Video-Nasties wieder aufleben zu lassen. Da wäre Rob Schmidts konsumentenfreundlicher, aber trotzdem ganz unterhaltsamer und atmosphärisch gelungener "Wrong Turn", Marcus Nispels vollkommen mißglücktes "Texas Chainsaw Massacre"-Weichspüler-Remake, Victor Salvas durchschnittlicher

"Jeepers Creepers", Eli Roths spritziger "Cabin Fever" und Rob Zombies "House of 1000 Corpses", ein überlanger Videoclip zum Thema, der jedoch durchaus seine Momente besitzt.

Aber zurück zum klar überlegenen "Haute Tension": Auch wenn der Film nicht über den subversiven Kern der immer noch unerreichten Siebziger-Jahre-Streifen verfügt, kommt er der Sache schon bedenklich nahe und darf wohl als erster Neo-Video-Nasty made in Europe eingestuft werden.

Da vergibt man dem Autor/Regisseur sogar das - für seine Verhältnisse - etwas dahingerotzte Ende sowie ein paar kleinere Versäumnisse.

Inwieweit sich während des Sehgenusses die Titel-gebende Hochspannung am eigenen Leib manifestiert, liegt mit Sicherheit an der subjektiven filmischen Erfahrungswelt des Zusehers. Ebenso die Beurteilung eines entscheidenden Plot-Twists, den wir natürlich nicht verraten wollen. Doch selbst bei hartgesottenen Gemütern werden zeitweise garantiert die Nervenenden brach liegen.

 

Eine besondere Erwähnung sollte an dieser Stelle auch Alexandre Ajas exzellente - aber leider nicht auf CD erhältliche - Soundtrack-Zusammenstellung finden, die es in Sachen präziser Einsatz locker mit Zack Snyders "Dawn of the Dead" aufnehmen kann (auch wenn dieser sich zum Großteil mehr auf Tylor-Bates-Score-Klänge verläßt). Die Bandbreite reicht dabei von der schmalzigen Italo-Pop-Nummer "Sara perche ti amo" von Ricchi & Poveri über "Just Another Girl" von UB 40 bis hin zur an Philip Glass´ Score zur "Truman Show" angelegten Ohrwurm-Nummer "New Born" von Muse als Unterlegung zum Abspann.

Fazit: Unterm Strich betrachtet keineswegs das Meisterwerk, als das ihn manche Publikationen herausschreien, offenbart sich der Streifen vielmehr als eine gelungene Fingerübung von Regisseur Aja. Aber was für eine!

Ganz ohne schreiende Teenie-Horden, dümmliche Sidekicks, explizit zur Schau gestelltes nacktes Fleisch oder auflockernden Humor (abgesehen von einem tiefschwarzen Moment) wird man hier endlich wieder einmal in eine Welt geführt, wo nicht alles gut wird und in der es keine wohltuende Sicherheit für den Zuseher gibt. Und genau darum geht es eigentlich im Genre: konsequentes an und über die Grenzen führen und nicht nur ein kleines bißchen Horrorshow, bei der man am Schluß gut gelaunt den Saal verläßt.

Auf so einen Film hat das Horror-Publikum seit Jahren gewartet. Glasklarer Konsumzwang, sofern Sie die Nerven und den Magen dazu haben ...

Den jungen Franzosen, dessen Machwerk (gekürzt um eine Minute) in den USA demnächst unter dem Titel "Switchblade Romance" an den Start geht, hat man inzwischen übrigens mit dem Remake von Wes Cravens "The Hills Have Eyes"* betraut.

 

PS: Beim Kauf der DVD gilt es unbedingt auf die Aufschrift "Uncut Version" (siehe Cover) zu achten, da nur die exklusiv für den österreichischen und Schweizer-Markt produzierte Ausgabe (ohne ersichtlichen Label-Aufdruck) ungekürzt ist und sämtliche deutsche Ausgaben inkl. der Special-Edition trotz dementsprechender Jugend-Nicht-Freigaben der Schere zum Opfer gefallen sind.

Jürgen Fichtinger

High Tension

ØØØ 1/2

(Haute Tension)


MC One (Fr 2003)

DVD Region 2

ca. 90 Min., dt. und engl. Fassung oder franz. OF wahlweise mit dt. UT (DD 5.1)

Features: ungekürzte Originalversion

Regie: Alexandre Aja

Darsteller: Cécile De France, Maïwenn Le Besco, Philippe Nahon u. a.

 

Links:

* The Hills Have Eyes

Import-Tip: GB


(USA 1977/Region 2/Anchor Bay Entertainment)

 

An dieser Stelle empfehlen wir den Erwerb der momentan für knapp 13 Euro fast geschenkten britischen Special-Edition des Wes-Craven-Klassikers.

Neben Regiekommentar, Featurette und dem alternativen Ende liegt dieser Ausgabe im Gegensatz zur US-Edition nämlich auch Adam Simons großartige Dokumentation "The American Nightmare" bei, die die entscheidenen Horrorfilme der Sechziger und Siebziger sowie deren Macher beleuchtet.

 

Links:

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