Video_Dogville
... home of the brave
Brutale Demaskierung: Lars von Triers prominent besetztes Experimentalwerk mit Nicole Kidman besticht vor allem durch seine schonungslose Konsequenz.
14.07.2004
Das fiktive Bergdorf Dogville ist ein ärmliches Nest inmitten der Rocky Mountains. Die kleine Einwohnerschaft der trostlosen Ortschaft führt ein kärgliches Leben an der Armutsgrenze. Es ist eine bittere Koexistenz, frei von Extravaganzen oder Heimlichkeiten; man weiß übereinander Bescheid und bleibt unter sich. Doch die natürliche Ordnung gerät jäh in Gefahr, als eine verzweifelte junge Frau in dem abgelegenen Dorf Zuflucht sucht: Die geheimnisvolle Grace (Nicole Kidman) wird von einem Suchtrupp unheilvoller Trenchcoat-Träger gejagt. Der junge Schriftsteller Tom Edison (Paul Bettany) nimmt sich der Flüchtigen an und handelt eine Vereinbarung zwischen Dogville und dem mittellosen Neuankömmling aus: Durch die Verrichtung anfallender Hilfsarbeiten sollen die Einwohner für etwaige Unannehmlichkeiten entschädigt und Graces weiterer Aufenthalt gesichert werden.
Fortan eilt Grace von Haus zu Haus, arbeitet als Gärtnerin, Magd und Kindermädchen. Dabei ist sie stets darum bemüht, das vorherrschende Mißtrauen abzubauen und sich vollständig in die Gemeinschaft zu integrieren. Als Graces Verfolger, unterstützt durch die lokale Staatsgewalt, Nachforschungen über den Verbleib der Flüchtigen anstellen und gar eine Belohnung auf deren Kopf aussetzen, machen sich Skepsis und Verunsicherung unter den Bürgern Dogvilles breit. Einer potentiellen Straftäterin Unterschlupf zu gewähren, könnte die Bevölkerung des ehrbaren Dorfs schließlich in unsägliche Schwierigkeiten stürzen. Um das erhöhte Risiko der Bewohner zu kompensieren, wird der Preis für Graces Asyl erhöht - die Arbeitsanforderungen werden verschärft, das bescheidene Entgelt gekürzt. Schrittweise nimmt das Abhängigkeitsverhältnis immer drastischere Formen an. Grace lernt eine gänzlich neue Seite des einfachen Bergvölkchens kennen ...
Fokussierung bis zum Anschlag: "Dogville" ist abgefilmtes Theater, nicht mehr und nicht weniger. Inszeniert auf einer einzelnen Bühne und unterteilt in neun Akte (plus Prolog), ist dies ein Experimentalfilm im wahrsten Sinne des Wortes. Auf den Einsatz von Kulissen wird fast vollständig verzichtet; Straßen, Wände und Türen sind durch Markierungen nur angedeutet. Von Triers Charaktere rücken somit buchstäblich ins rechte Licht. Grace sieht sich mit immer dreisteren Forderungen seitens ihrer "Beschützer" konfrontiert. Die zögerliche Güte, die die Dorfbewohner der hilflosen Fremden anfangs entgegenbringen, weicht bald wesentlich fundamentaleren Charakterzügen: Intoleranz, Neid und Opportunismus nehmen überhand, Ausbeutung und Erpressung stehen an der Tagesordnung. Und selbst die unmenschlichsten Aktionen werden vor den Mitbürgern wie auch dem eigenen Gewissen stets problemlos gerechtfertigt.
Die wohldosierten Darstellungen der Schauspieler können sich sehen lassen. Eine kleine Gruppe erlesener Akteure erweckt das bigotte Dogville in erschreckender Manier zum Leben. Und Kidman deckt als sympathische Außenseiterin und unliebsamer Eindringling ein beeindruckend breit gefächertes Gefühlsspektrum ab.
"Dogville" ist die provokante Radikalisierung des Steinbeckschen Kleinbürgertums und eine brutale Abrechnung mit dem Menschengeschlecht im Allgemeinen. Lars von Trier will mit seiner Parabel auf deutlichste Art und Weise veranschaulichen, daß das Ziel einer realistischen, "nackten" Inszenierung des menschlichen Wesens nur durch die konsequente Zurschaustellung seiner verachtenswertesten Züge erreicht werden kann. Daß er dazu auf den wohl spektakulärsten aller Musterschüler in Sachen Heuchelei zurückgreift, darf niemanden verwundern. Gleichwohl bleibt diese rücksichtslos direkte Lektion in Sachen Menschlichkeit jederzeit kulturell wie geographisch übertragbar.
Dietmar Wohlfart
Kommentare_