The Pipettes - We Are The Pipettes
Rough Trade (GB 2006)
Mehr Retro geht eigentlich gar nicht - meint Manfred Prescher: Musik und Style dieser Band sind eine einzige Reminiszenz an Phil Spector. Und die klingt erstaunlich frisch und zeitgemäß. 23.10.2006
Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.
Die Feiern zum 50. Jubiläum der "Miststück"-Kolumnen sind vorbei, es herrscht wieder der 5000-Zeichen-Alltag. Aber auch der kann sehr charmant sein. Gwenno, Rosay und Riot Becki sind die süßesten Geschöpfe, die je aus der Vergangenheit nach uns gegriffen haben. Sie sind The Pipettes - und die Reinkarnation von Emma Peel, Miss Moneypenny, Betty Page und den Supremes. Damit ist natürlich auch schon festgelegt, daß diese Formation Zeiten wieder aufleben läßt, die seit reichlich vier Jahrzehnten der Pop-Vergangenheit angehören. Die Fifties und Sixties liegen schon so lange zurück, daß man das Gefühl hat, die Stilfragen dieser Ära seien auf einem anderen Planeten geklärt worden. Gerade deswegen ist dieser Griff in die Mottenkiste auf jeden Fall hübsch anzuhören und anzusehen.
Traditionsfragen sind also rasch geklärt: Die Pipettes sind musikalische Nachfahren der Girlgroups, mit denen Phil Spector oder das Soul-Label Motown in den 60er Jahren überaus erfolgreich Naivität, Charme, ein laszives Knistern und Bombast miteinander verbanden. Mit der Opulenz des Produktionsmeisters hatten frühe Pipettes-Aufnahmen, etwa die der Christmas-Single von 2004 oder "I Like A Boy In Uniform (School Uniform)" und "ABC" nicht allzuviel zu tun. Die Stücke klingen etwas verhuscht, um nicht zu sagen schlampig produziert. Trotzdem versprühen auch diese Songs die Anmut, die beispielsweise Spectors Ronettes ("Be My Baby") auszeichnete. In den Klassikern dieser Phase geht es um die kleinen und großen Tragödien, die das Teenagerherz brechen lassen: "Leader Of The Pack" von den Shangri-Las oder "You Can´t Hurry Love" von den Supremes fallen einem da ein.
Natürlich sind die Pipettes keine Girlies, sondern erwachsene Frauen mit einem hohen Stilbewußtsein und einer Spur Abgeklärtheit, die den Ronettes abging. Das liegt zum einen daran, daß sich die gesellschaftliche Sichtweise auf das Weibliche geändert hat und damit auch ein Stück weit das Rollenbild. Frauen singen nicht mehr nur davon, wie sie behandelt werden und wie ihnen das Herz gebrochen wird, sie handeln selbst und brechen Herzen. Sie nehmen sich, was sie brauchen - zumindest in ihren Liedern.
Eng mit den Rollenbildern verknüpft ist der zweite Grund: Die 60er waren ein Jahrzehnt des Aufbruchs. Die Girlgroups hatten ihre Blütezeit aber noch in der braven Phase, die auf den Mief der Fünfziger, Gelsenkirchener Barock und verklemmte Tabuisierung von allem, was mit Sexualität zu tun hatte, aufbaute. Jerry Lee Lewis oder Ray Charles nahmen sich die Freiheit, Wollust relativ offen anzusprechen, aber eine Girlgroup hatte zunächst und fast ausschließlich nett zu sein. Daß die Shirelles oder Ronettes nicht die "Great Balls Of Fire" besangen, hat weniger anatomische Gründe - es ist vielmehr eine Frage der Grenzziehung zwischen den Geschlechtern, die das unverblümt Sexuelle in diesen Fällen verbot. Ihren Reiz beziehen die Originale von damals auch aus der Tatsache, daß man deutlich spürt, wie es unter der hübsch-koketten Oberfläche brodelt. Und es ist dieses Brodeln, das heute von den Pipettes offen thematisiert wird.
Daher wehen zwar der Geist und die Vielstimmigkeit der Vokalistinnengruppen aus den Songs der Pipettes, aber eben nicht nur das: Gwenno, Rosay und Riot Becki sprechen forsch vom "One Night Stand" und erklären in "Because It´s Not Love (But It´s Still A Feeling)", daß Liebe und Sex nichts miteinander zu tun haben. Das wußte man wahrscheinlich auch schon 1963, besang es aber nicht. Für typisch-schwelgerische Ronettes-Tragödien sind die Engländerinnen auf ihrem Debütalbum "We Are The Pipettes" natürlich auch zu haben: "It Hurts To See You Dance So Well" nennt sich eines dieser Dramen.
Der absolute Höhepunkt auf der CD ist jedoch "Pull Shapes" - eine von vier Singles, die im Vereinigten Königreich bislang ausgekoppelt wurden. Sie ist die erfolgreichste davon - kein Wunder, da sich der Song dermaßen im Gehörgang festfrißt und auch dann nicht abschütteln läßt, wenn man ihn eigentlich hassen möchte. Er betört und bietet Schwung für mindestens einen Tag, ist eine Trainingseinheit in guter Laune, eine Trostpille in bitteren Zeiten. Power und Pfiffigkeit bilden eine Einheit, die wohlgeraten ist und sogar Spectors Wall-of-Sound-Qualitäten erreicht. Dazu läßt sich trefflich tanzen - und genau darum geht es. Wer einmal in einer Disco oder einem Club diese Eine, diese Traumfrau gesehen hat und sich von ihren anmutigen Bewegungen unweigerlich in ihren Bann hat ziehen lassen, der weiß, wovon da die Rede ist, welche Verlockungen zu erwarten sind: "Dance with me, pretty boy tonight/Dance with me, and we´ll be alright/There´s a whole floor before us, just for you and me/So follow my lead, and we´ll 1-2-3". So trippelt man dann unbeholfen neben dieser Frau her, die wirklich auf alles tanzen kann: "Pull Shapes, I like to Disco/I like to Rock´n´Roll/Well I like to Hip-Hop/We can do it all, just don´t let the music stop."
Eines ist gewiß: Diese Lady kann jeden Sound - und wahrscheinlich auch jeden Mann - in die ihr genehme Form bringen. "Pull Shapes" halt. Mit den vier Männern in der Band haben es die drei geschmackssicheren Sängerinnen auf jeden Fall geschafft. Die Jungs spielen genau das, was zum Tanzen nötig ist ...
Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER
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