Matmos live
Szene Wien, 12. 9. 2006
Das amerikanische Experimental-Elektronikduo gastiert erstmals in Wien - für Ernst Meyer allerhöchste Zeit, die exzentrischen Sound-Tüftler aus der Nähe zu studieren. 07.09.2006
Matmos lassen sich in keine Schublade stecken. Seit ihrer Gründung 1995 in San Francisco tummeln sich M. C. Schmidt und Drew Daniel gekonnt an der Schnittfläche zwischen Elektronik, Musique Concrete und Industrial. Das tun andere Bands zwar auch, aber punkto frivoler Originalität und multidimensionaler Informationsverpackung kommt an Matmos wohl niemand heran.
Klingt kompliziert, ist aber leicht erklärt. Matmos beziehen ihren Namen von dem nebelartig vor sich hinbrodelnden, alles verschlingenden See aus dem Science-Fiction-Filmklassiker "Barbarella". Ganz zufällig ist das nicht. Wie besagter See verschlingt das Duo alle nur erdenklichen nichtmusikalischen Objekte, um aus deren gesampelten "found sounds" neuartige Klangkonstrukte zu formen. Das mag an die Arbeitsweise diverser Genregrößen wie Autechre oder Seefeel erinnern, doch Matmos gehen ganz andere, elaboriertere Wege. Was keineswegs heißen soll, daß ihre Musik gänzlich untanzbar wäre - bloß mit dem vielstrapazierten Sammelbegriff IDM hat sie nichts zu tun.
Matmos´ konzeptuelle Kompositionskraft bezieht ihre Energie, ihre Spannung aus einer elliptischen Dialektik. An die Stelle einer (Ausgangs-)These tritt bei ihnen ein Thema. Das kann ein singuläres Ereignis, etwa eine operative Fettabsaugung ("A Chance To Cut Is A Chance To Cure", 2001), ein historischer Zeitabschnitt ("The Civil War", 2003) oder das biographische Exzerpt einer von Matmos verehrten Person ("The Rose Has Teeth In The Mouth Of A Beast", 2006) sein.
Das jeweilige Thema durchläuft nun den Prozeß der Analyse. Aus den darin enthaltenen Daten werden Fraktale herausgefiltert, die sich auf irgendeine Weise musikalisch umsetzen lassen: Auf "A Chance To Cut ..." beispielsweise werden die bizarren Geräusche der Fettabsaugung in abstrakte Electronica transferiert. Auf "The Civil War" lassen Matmos einen "Clash of Civilizations" musikalisch auferstehen, indem sie die schottische Folklore der Einwanderer auf indianische Initiationsmusik prallen lassen. Mit "The Rose Has Teeth ..." schließlich haben Matmos heuer die Quadratur des Kreises (oder der Ellipse) geschafft: Statt eines zentralen Themas präsentieren sie gleich zehn Sound-Porträts mehr oder weniger bekannter (homosexueller) Personen aus der jüngeren Geschichte, von Boyd McDonald über Valerie Solanas bis William S. Burroughs und König Ludwig II.
Es versteht sich von selbst, daß der letzte Abschnitt der dialektischen Konstruktion, die Synthese, in dem mündet, was unsere Ohren wahrnehmen: seltsam entrückte, mitunter außerirdisch anmutende elektronische Musik. Die Ellipse schließt sich. Soweit ein erster, grober Umriß. Noch immer kratzen wir bloß an der Oberfläche. Doch wie funktioniert das alles im Detail?
Ein paar Beispiele aus dem aktuellen Album bringen Licht ins Dunkel. Man nehme etwa "Tract for Valerie Solanas". "Tract" kann sowohl "Traktat" als auch "Trakt" heißen. Letzteren, nämlich den Gebärtrakt samt Vagina einer Kuh, traktierten Matmos, um der radikalfeministischen Lesbe Valerie Solanas ein Denkmal zu setzen. Sie war die Autorin des "S.C.U.M.-Manifesto", einer polemischen Kampfschrift zur Ausrottung der männlichen Erdbevölkerung, und außerdem die berüchtigte Andy-Warhol-Attentäterin. Zwischen dem Text ihres Buches und der gewagten musikalischen Umsetzung durch Matmos gibt es einen direkten Zusammenhang: Solanas fordert in ihrem Pamphlet alle Frauen auf, sofort auf künstliche Befruchtung umzusteigen und nur mehr Frauen in die Welt zu setzen. Die so unnötig gewordenen Männer könnten dann entweder ein Leben als Transvestiten führen oder sich in sogenannten Selbstmordzentralen, die an jeder Straßenecke zu finden sind, freiwillig einschläfern lassen. Warum es ausgerechnet eine Kuh sein mußte, die ihre Gebärmutter für Matmos´ Zwecke unfreiwillig zur Verfügung stellte, hat nicht etwa damit zu tun, daß Matmos Valerie Solanas für eine dumme Kuh halten. Doch um eine Gebärmutter wie einen Dudelsack spielen zu können, muß sie schlicht eine bestimmte Größe aufweisen - simple Mathematik also.
Bei "Snails And Lasers For Patricia Highsmith" liegen die Dinge ähnlich. Miß Highsmith hatte eine Vorliebe für schleimige Schnecken und hielt an die 100 Stück in ihrem Haus. Matmos präparierten nun eine interessante Laboranordnung. Bestandteile: ein Laser, der auf ein lichtempfindliches Theremin gerichtet war, und Schnecken in einem Glaszylinder. Je nach Bewegung der Schnecken und Unterbrechung bzw. Biegung des Lasers veränderte das Theremin gespenstisch langsam seine Frequenz. Und um diese mühsam gewonnenen Sounds webten Matmos dann eine jazzige Miniatur. Superb.
William S. Burroughs´ Reichtum stammte aus einer Erfindung seines Großvaters. Der baute die erste Rechenmaschine, die einen Papierstreifen mit den einzelnen Posten samt Summe ausdruckte. William erbte irgendwann das Patent - Glück für ihn, konnte er so in Ruhe und vor allem durchaus begütert seiner Drogen- und Schreibsucht nachgehen. Matmos verwendeten für ihren "Ragtime" eine Original-Burroughs-Rechenmaschine. Das Absampeln der klickenden Tastatur dürfte entschieden einfacher gewesen sein als das kühne Experiment mit dem Kuhmagen ...
Wer mehr über Matmos herausfinden will, sei auf das reichhaltige Backorder-Angebot verwiesen. "A Chance To Cut ..." ist ein Muß, "The Rose Has Teeth ..." ebenso, und "Quasi Objects" sei allen neugierigen Experimental-Nerds besonders ans Herz gelegt. Matmos stehen wie ein Fels in der Brandung der heutigen Welt der Nachahmer und Kopisten. Sie schaffen es, jene "Momente einzufangen, die uns so vertraut sind, daß sie uns schon wieder fremd erscheinen" (Filmzitat aus "9 1/2 Wochen").
Wie sie das alles live bewerkstelligen, das kann man am 12. September in der Szene Wien selbst überprüfen.
Matmos live
Szene Wien, 12. 9. 2006
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