Kolumnen_Miststück der Woche, Pt. 4

Kate Bush: "Aerial"

Ausnahmsweise ein komplettes Doppelalbum: Manfred Prescher entdeckt wieder einmal sein Herz für hohe Töne und die mystisch verklärtesten Nebel jenseits von Avalon.    21.11.2005

Man kennt das ja: Langsam quält man sich aus dem Bett - und noch ehe man sich damit beschäftigen kann, mit Schwung und Elan in den Tag einzugreifen, wird man schon überrollt. Unter der Dusche, beim Rasieren, beim Frühstücken, im Auto: Immer hat man dieses eine Lied auf den Lippen, summt es vor sich hin, nervt damit die Umgebung. Dabei weiß man nicht mal, wie es dieses Miststück von Song überhaupt geschafft hat, die Geschmackskontrollen zu überwinden. In dieser Kolumne geht es um solch perfide Lieder.

 

In den finsteren Zeiten des Mittelalters wäre eine wie Kate Bush auf dem Scheiterhaufen gelandet, soviel ist klar. Der Inquisitor würde in seinem Plädoyer bemerken, daß sich die Hexe dem Mischen und Verbreiten verbotener Substanzen verschrieben habe und es ihr mithin gelungen sei, viele Menschen vom rechten Glauben abzubringen und daran zu hindern, ein gottgerechtes Leben zu führen: betörende Elixiere, Aphrodisiaka, bewußtseinserweiternde Substanzen und einen bezaubernden Trank für einen Wolkentrip.

Heute macht Kate Bush genau das. Auf "Aerial" braut sie Soundcocktails von ätherischer Schönheit, und es gelingt ihr immerhin 15mal, den Hörer auf Reisen in ein Innenleben mitzunehmen, das längst von Kate in Besitz genommen wurde. Es ist wie ein schöner Traum - einer, nach dem man leicht süchtig werden kann. Erst recht, wenn seit der letzten Platte 12 und seit der letzten gelungenen ("The Sensual World") sogar - ziemlich lange - 16 Jahre vergangen sind.

Es spricht einiges dafür, daß diese Frau keine gute Fee ist, sondern eine böse Hexe, die den richtigen Moment abwartet, um uns dann sirenengleich in ihren Bann zu ziehen. Und zwar nur, um uns dann wahrscheinlich wieder eine Ewigkeit warten zu lassen. Vielleicht aber ist sie doch eine gute Fee? Eine Elbenkönigin gar? Vielleicht ist sie mit Elrond und Galadriel über das große Meer nach Valinor gefahren und konnte gar nicht so einfach wieder zu uns Süchtigen zurück? Dafür spricht speziell "A Choral Room", der letzte Song der ersten CD, die auch noch "A Sea Of Honey" heißt. "A Choral Room" ist so traurig und kitschig wie der Abschied von den Elben in "Die Rückkehr des Königs". (Angeblich hat sie das Lied ja im Schock kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 geschrieben, aber sie muß halt immer alles so sehr verklären ...)

 

Doch ich tue Kate Bush unrecht, sie will mich gar nicht in eine magische Welt führen, die es in Wirklichkeit nicht gibt, sie will eigentlich nur erzählen, was sie all die ganzen Jahre über so gemacht hat: 1999 bekam sie ihren Sohn Bertie - und dem ist praktisch die komplette erste Disc gewidmet. Das Wunder der Geburt in sieben Teilen und einer vergleichsweise direkten Liebesbotschaft an das Söhnchen ("Bertie"). Daß sie aber auch alles immer so mystifizieren muß, daß der Hörer bereitwillig an Peter Pan, an Galadriels Spiegel oder meinetwegen auch an unbefleckte Empfängnis glauben möchte: "I found a book on how to be invisible/On the edge of the labyrinth/Under a veil you must never lift/" - genau, damit einen die bösen Orks nicht sehen -"Pages you must never turn/In the labyrinth/You stand in front of a million doors/And each one holds a million more/Corridors that leads through the world/Of the invisible". Wie heißt es doch bei IKEA so schön: "Entdecke die Möglichkeiten".

Disc 2 heißt "A Sky Of Honey" und erinnert stark an die zweite, die daddelige Seite des 85er-Albums "Hounds Of Love", an den sphärischen Zyklus "The Ninth Wave": Die frisch vom Soundcomputer erzeugten Vögel zwitschern, daß es eine wahre Freude ist, Kate Bush spaziert durch einen Tag und genießt das, was sie in ihrer klingenden Postkartenidylle entdeckt: den Sonnenaufgang, all die Farben, die ein Maler auf die Leinwand bringen würde, wenn er sich Zeit nähme, und diesen einen Tag, diese eine Nacht mit jedem einzelnen Augenblick in sich aufnehmen würde. Sie spinnt ein feines Netz aus Klängen, die eher in den Wellness-Bereich ("Du atmest ganz tief ein, hörst, wie sich das Piano langsam entfernt") gehören, verbindet dabei Flamenco-Elemente, Versatzstücke von Pop-Melodien oder jazzige Improvisationen mit ihrem Hang, immer alles zu verklären. Denn schließlich verbinden sich im Stück "Somewhere In Between" Kate, Bertie und der Allmächtige selber zu einer Einheit aus Gott, dem Vater, ihrem Sohn Bertie und dem Kate-Bush-Geist, der, wenn er schon nicht über allem, dann doch wenigstens über "Aerial" schwebt. Aber das ist eigentlich alles halb so schlimm, wir leben ja schließlich nicht mehr im finsteren Mittelalter.


Redaktioneller Hinweis: Lesen Sie auch Manfred Preschers E-Book für die Ewigkeit: Verdammtes Miststück! Die ersten 200 Pop-Kolumnen aus dem EVOLVER

Manfred Prescher

Kate Bush im Web


 

Links:

Kate Bush - Aerial


EMI (GB 2005)

 

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