Alfred Stohl - Der Narrenturm oder Die dunkle Seite der Wissenschaft
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Böhlau-Verlag (Wien 2000)
Die heutige Heimstatt des Wiener Pathologisch-anatomischen Bundesmuseums wurde nach zahlenmagischen Geheimlehren konstruiert - meint wenigstens der Autor dieses Buches. 30.11.2005
Narren muß man wegsperren. Im Jahr 1784 ließ Kaiser Joseph II. deshalb ein kreisförmiges Gebäude errichten, das auch dem heutigen, politisch korrekten Wien immer noch als "der Narrenturm" ein Begriff ist. Dort ließ der Kaiser, nachdem er die psychiatrische Abteilung aus dem Allgemeinen Krankenhaus ausgegliedert hatte, die psychisch Kranken seiner Zeit einsperren. Heute ist der fünfstöckige Turm eine sanierungsbedürftige Attraktion in einem abgelegenen Teil des Wiener Universitätscampus. Hinter der baufälligen Fassade werden keine Narren mehr weggesperrt; vielmehr ist der Turm die Heimat des Pathologisch-anatomischen Bundesmuseums, das eine einzigartige Präparatensammlung beherrbergt.
Knapp 90 Jahre lang diente der Narrenturm als psychiatrische Anstalt mit zahlreichen Fehlkonstruktionen. Das ausgeklügelte, auf Schächten basierende und von vier Öfen im Keller betriebene Heizungssystem beispielsweise leitete Rauch und Abgase anstelle warmer Luft in die Zellen der Patienten. Auch zahlreiche weitere Details spiegeln eher die Vorliebe des Kaisers für Geheimlehren als rationelle Baukunst wieder. Das ist auch der Grund, weshalb in jedem Stockwerk 28 Zellen zu finden sind - und nicht 30, was einfacher zu konstruieren gewesen wäre.
"Der Narrenturm birgt in seiner Bausubstanz ein Zahlensystem, das zu einem alchemistischen Denkschema gehört", schreibt Alfred Stohl in seinem Buch "Der Narrenturm oder die dunkle Seite der Wissenschaft" - und meint mit Alchemie "nicht irgendwelche dubiosen Versuche, die allesamt nur darauf abzielten, Gold zu machen oder den Stein der Weisen zu finden". Die Konstruktion des Bauwerks sollte die untergebrachten Irren beruhigen, und der auf einem künstlich aufgeschütteten Erdhügel errichtete Turm "sollte sich vom übrigen Gelände abheben, ja mehr noch, er sollte sich ganz generell von der Erde abheben und nur so weit mit dem festen Boden verbunden sein, so weit er den Kontakt zu höheren Sphären nicht störte", fährt Stohl fort. Alchemie versus Psychiatrie also.
In seinem Buch setzt sich der Autor nicht mit der aktuellen Nutzung der über 200 Jahre alten Bausubstanz als Museum auseinander, sondern ausschließlich mit den in die Entstehung und den Betrieb des Turmes involvierten Geheimlehren, den im Kontext stehenden psychischen Krankheiten und ihren Heilungsmethoden (besser: Heilungsversuchen).
"Ich habe schlüssige Indizien gefunden, die eindeutig besagen, daß der Narrenturm hinsichtlich seiner architektonischen Gestaltung, der Zahl, Abmessung und Anordnung der kreisförmig angeordneten Zellen, der Anzahl der Stockwerke und des gesamten zylindrischen Bauchkörpers, ein okkultes, das heißt geheimes, nicht jedem offen erkennbares, Zahlensystem birgt." Der Turm diente der "inneren Alchemie rosenkreuzerischer Prägung", die eine Verbindung zwischen Mikrokosmos (für die Seele) und dem Makrokosmos (das Weltall und damit Gott) herstellen sollte.
Stohl entführt seine Leser nicht nur in ein altes Wien, er entwirft auch einen recht anschaulichen Bilderbogen der damals gängigen Geheimlehren - und auf eine gewisse Art auch das Bild einer widersprüchlichen Zeit, wie man sie so sonst nicht in Geschichtsbüchern findet. Verschwörungstheoretiker werden keine Freude mit dem Buch haben, denn Stohl bleibt auf dem Boden der belegbaren Tatsachen. "Der Narrenturm" ist damit ein ernstzunehmendes Sachbuch, das sich einem kaum bekannten Thema kompetent nähert, und auch ein Stück Wiener Geschichte. "Der Narrenturm", schreibt Stohl, "ist wahrscheinlich Europas einziges erhaltenes Großdenkmal der Alchemie, aus einer Zeit stammend, da die Trennlinie zwischen dem, was wir heute als wissenschaftlich-exaktes Denken kennen, und okkulter-magischer Spekulation trotz Aufklärung und beginnendem Siegeszug der Naturwissenschaften noch nicht klar und deutlich gezogen war."
Trost sollten im Narrenturm alle an Leib und Seele Erkrankten erfahren - und Stohl kommt zum Schluß, "dass hier niemand Geringerer als Kaiser Joseph II. ebenfalls Trost suchte, ja dass der Narrenturm sogar erst in zweiter Linie ein Tollhaus und eine Irrenanstalt war - vorrangig aber einen äußerst denk- und merkwürdigen Versuch darstellt, Alchemie zu betreiben."
PS: Die Geschichte des Narrenturms als Museum beginnt im Jahr 1971 mit der Übersiedelung des Pathologisch-anatomischen Bundesmuseums, das mit etwa 7000 Präparaten in den mehr als 200 Jahre alten Turm einzog. Bis heute ist die Sammlung permanent gewachsen und genießt landesweit einen einzigartigen Status. Aufgrund mangelnder Subventionen ist die Bausubstanz allerdings am Verfallen.
Alfred Stohl - Der Narrenturm oder Die dunkle Seite der Wissenschaft
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Böhlau-Verlag (Wien 2000)
DER NARRENTURM
[Augustin-Magazin/Radio Orange 94.0, Wien. RealAudio, ca. 20']
Radiobeitrag über den Narrenturm. Im Gespräch: Dr. Beatrix Patzak (Leiterin des Pathologisch-anatomischen Bundesmuseums), Oktober 2005
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