Stories_Allerseelen/Interview
"Einfache Maschinen"
Berichte aus der Dunkelkammer: Der Mann hinter der österreichischen "Industrial Folklore"-Band Allerseelen gab Heidelinde Moser ein E-Mail-Interview.
02.11.2005
Zusammenfassend kann man sagen, daß Gerhard/Kadmon in Wort und Ton eine Linie verfolgt, die sich nicht nur im 'Kraftfeld aus Heimat, Heidentum und Ökologie' (so der Untertitel der Ahnstern-Ausgabe Heidnat) bewegt, sondern auch Surrealismus, die ursprüngliche Industrial-Ethik und das Verlangen einer Verschmelzung moderner ('technosophischer') Elemente mit alten Mythen und Symbolen beinhaltet.
Zitat aus: Andreas Diesel & Dieter Gerten - "Looking for Europe" (Prophecy Productions)
Die Jäger des verlorenen Faschismus werfen Musikern und Fans des Neofolk-Genres politisch unschönes Gedankengut vor - wie sie es bei allem tun, was nicht ins brave und nur ja keine Anzeigenkunden vertreibende Konzept von Mainstream- und Alternativmedien paßt. Einschlägige Konzerte finden in ganz Europa (und manchmal auch im Rest der Welt) statt, vor einem verschworenen Publikum, in dem sich manchmal auch der eine oder andere Skin oder verdächtig Uniformierte findet - neben Grufties, Krawattenträgern oder verirrten Dreadlocks. Manchmal finden sie aber auch gar nicht statt, weil sich fortschrittliche Stadtzeitungen bemüßigt fühlen, als Zensor einzuschreiten ...
Die Apocalyptic Folk/Neofolk/Post-Industrial-Szene lebt und arbeitet mitten in einer politischen Kontroverse und wird von der handelsüblichen Popkultur gemieden wie der ungewaschene kleine Bruder, der vom rechten linken Weg abgekommen ist. Ihre Musik gilt gemeinhin als eine, die nur historisch verirrte Jugendliche hören, die sich nebenbei mit der heidnischen/vorchristlichen Geschichte Europas und den düsteren Lebensbedingungen im Industriezeitalter beschäftigen.
Ist das Rock´n´Roll? Ja, natürlich - wenigstens vom Tabubruchfaktor her, wenn schon nicht von der Musik. Das Problem ist nur, daß sich Rock´n´Roll heute als eine Angelegenheit adretter Menschen mit katastrophalen Frisuren geriert, die sich gelegentlich den einen oder anderen halbgaren, halblegalen In-Lokal-Exzeß gönnen. Dieser Niedergang der westlichen Kultur darf einen nicht wundern, wenn man sich die Musikbeamten aus der Medienszene ansieht, all diese gescheiterten Musiker-, Schriftsteller-, Plattenaufleger- und Künstlerexistenzen, die sich "ihren" Rock´n´Roll halt so zurechtbasteln, wie es ihren gescheiterten Persönlichkeiten entspricht.
Doch die elitären Neofolker scheinen sich dem Scheinwerferlicht ohnehin absichtlich zu entziehen. Durchschnittliche Musikkonsumenten haben noch nie von ihnen gehört, und wer zufällig auf sie stößt, findet ihre Musik wie ihre Philosophie äußerst rätselhaft. Aus diesem Grund besann sich der EVOLVER auf seine Informationspflicht und interviewte Gerhard (früher: Kadmon) von der österreichischen Band Allerseelen, einem seit nunmehr fast 20 Jahren bestehenden Projekt mit zahlreichen Veröffentlichungen, dessen rituell-rhythmischen Sound man am ehesten unter "Industrial Folklore" einordnen könnte - auch wenn manche "technosophische Tonkunst" oder "konservative Avantgarde" dazu sagen.
Wir wollten wissen, was er selbst dazu sagt.
EVOLVER: Seit wann gibt es deine Band?
Gerhard: Gerd Rabe und ich gründeten Allerseelen 1987. Zwei Freunde von Gerd waren dann auch noch für einige Zeit bei der Gruppe. Am Anfang waren wir eine normale, klassische Formation, die regelmäßig probte - unseren Proberaum hatten wir damals unter dem ehemaligen Plattengeschäft "Why Not" im sechsten Bezirk. Wir waren beeinflußt von Gruppen wie den Einstürzenden Neubauten oder Test Department und arbeiteten mit Metall-Percussion und einem Baß. Mit dieser Mannschaft fanden auch zwei mehr oder weniger gelungene Auftritte statt, dann aber gab es einige Spannungen in der Gruppe, und das Ganze zerbrach. Und doch gab es Allerseelen immer noch - offenbar besaß dieses Projekt schon damals eine recht starke Eigendynamik.
EVOLVER: Und wie bist du ausgerechnet auf den Bandnamen Allerseelen gekommen, der doch einen christlichen Feiertag bezeichnet?
Gerhard: Als ich sechzehn war und noch Schriftsteller werden wollte, lernte ich zufällig ein Paar Typen kennen, die in Berlin in einem besetzten Haus lebten. Dort hörte ich zum ersten Mal diese eigenwillige Musik mit schrägen deutschen Texten, wie sie von Abwärts, DAF, den Einstürzenden Neubauten und Ton Steine Scherben gespielt wurde. Als ich nach Oberösterreich zurückkehrte, war ich im Grunde ein anderer Mensch. Ich ließ die Dichtung sein und begann, Musik aufzunehmen.
In den damals wirklich tollen Texten von Blixa Bargeld kam oft das Wort "Seele" vor. Da Gerd Rabe und ich damals recht besessen waren von allem, was mit dem Tod und menschlichen Knochen zusammenhing, stand auch plötzlich der Name Allerseelen im Raum - der Tag, an dem die Toten die Lebenden aufsuchen. Ich bin aber überzeugt, daß nicht wir uns für diesen Namen entschieden, sondern das Wort sich für uns entschied - der Künstler ist ein Werkzeug seines Werkes. Jedenfalls taugt mir der Name noch immer, für mich vereint der Name nicht nur All und Seele, auch das Wort Alleingang schwingt darin mit, ein Gratgang, etwas Einsiedlerisches, Eigenbrötlerisches.
EVOLVER: Wie trat Allerseelen nach der Trennung von den Bandkollegen live auf? Warst du da solo auf der Bühne?
Gerhard: Eigentlich gab es Allerseelen dann mehrere Jahre nicht als Formation. Allerseelen war eine Gruppe ohne Mitglieder. Eines Tages machte ich eben alleine weiter. Ich kaufte ein einfaches Sampling-Keyboard, trommelte auf meinen beiden Pauken, kratzte auf meiner Geige, spielte auf dem Baß einfache Melodien, ahmte Rabenkrächzen nach und schuf aus allen diesen Spuren düstere und schwermütige Soundtracks, die ich mit drei Kassettenrekordern zusammenmischte und nach und nach auf Kassetten veröffentlichte. Diese Kassetten, deren Hüllen und Etiketten ich recht liebevoll und auch mühevoll fertigte, waren recht gefragt. Ich verkaufte schon damals Dutzende Exemplare in Länder wie Amerika und Portugal und war mit vielen Hörern in Kontakt. Und ich verbrachte viel Zeit mit meiner Korrespondenz - aber daran hat sich eigentlich bis heute nichts verändert.
Mit neunzehn mußte ich zum Bundesheer und nahm nicht nur meine Aleister-Crowley-Bücher in die Kasernen in Wels und Wien mit, sondern auch meine Kassettenrekorder, die Originalbänder und Leerkassetten, um in dieser Zeit Kassetten kopieren zu können. Als ich wegen unerlaubten Fernbleibens von der Truppe zwei Wochen Ausgehverbot bekam, konnte ich diese Zeit recht sinnvoll nutzen. Manche dieser Aufnahmen haben auch heute noch etwas sehr Hypnotisches, Rituelles, auch Zeitloses. Gewisse Stimmungen erinnern merkwürdig an die tragischen, wehmütigen Tangokompositionen von Astor Piazzola - vielleicht war das auch der Grund, warum in Ländern wie Argentinien und Portugal das Interesse an Allerseelen immer schon groß war. Diese Kassetten waren sehr lange vergriffen, wurden aber im vergangenen Jahr vom Salzburger Musikverlag Ahnstern auf zwei wunderschönen Doppel-LPs - "Archaische Arbeiten" und "Heimliche Welt" - wiederveröffentlicht.
Irgendwann beschloß ich, meine Lieder live vorzutragen. Da ich schon damals sehr eigenbrötlerisch war, organisierte ich drei Auftritte im Alleingang. Ich trat alleine mit Baß und meinem 4-Spur-Rekorder auf, unter anderem auch im Ernst-Kirchweger-Haus. Einer dieser drei Auftritte hat mein Leben stark verändert, ich lernte eine hübsche Innviertlerin kennen, die dann schon ein halbes Jahr später in München mit mir auf der Bühne stand und jahrelang bei Allerseelen singen und auch Baß spielen sollte. Seit diesem Zeitpunkt besteht Allerseelen nicht mehr aus mir allein; nach wie vor aber schaffe ich die ganze Tonkunst.
EVOLVER: Wie würdest du deine damalige Musik kategorisieren? Industrial oder Neofolk?
Gerhard: Diese Frage haßt jeder Musiker wie einen Gehörsturz - nichts ist schwieriger als der Versuch, das eigene Liedgut zu beschreiben. Die hypnotischen und monotonen Aufnahmen von damals waren rituelle Musik; ich bezeichnete sie auch als Dunkelkammermusik. Die frühen Werke waren nicht industriell, da ich weder industrielle Geräusche noch industrielle Themen verwendete noch die Technokratie beweihräucherte. Sie waren auch keine Folklore, der es ja in erster Linie um Heimatverbundenheit geht, um den Ausdruck einer Liebe zum Land, zum Wald, zum offenen Feuer ... Einige der Stücke handelten von Odins Raben Hugin und Munin und seinen Wölfen Geri und Freki, andere handelten von alchimistischen Themen und eine der Kompositionen, "Datura Stramonium" von der Droge Stechapfel. Im Grunde handelte mein ganzes Liedgut von einer einzigen Landschaft, einer einzigen heimlichen Welt, die so unsichtbar blieb wie die Musik - meine eigene Seele mit allen ihren Schatten.
EVOLVER: Für jemanden, der die Szene nicht kennt, ist die Grenze zwischen Neofolk und Industrial eigentlich kaum erkennbar. Gibt es überhaupt noch eine strenge Trennung zwischen diesen Genres?
Gerhard: Ich finde, daß sich beide Bereiche sehr stark voneinander unterscheiden und kaum etwas gemeinsam haben. Ich mag die Bezeichnung Neofolk ebensowenig wie den Ausdruck Austropop. Der künstlerische Ausdruck von Industrial Music und Neofolk ist ganz unterschiedlich. Der industrielle Musiker, der in erster Linie mit Geräuschen hantiert, sagt ja zur Stadt, zur Technik, zu den Ameisenstaaten des zwanzigsten Jahrhunderts, zur Batteriehaltung von Menschen und Tieren, zur Zerstörung, zu Hiroshima. Ein extremes und sehr gutes Beispiel für diese Einstellung war die englische Gruppe Throbbing Gristle, deren düstere, dunkelgraue Lieder von Auschwitz und Zyklon B handelten, ohne faschistisch oder rechts oder nationalsozialistisch oder sonstwas zu sein - Fetischismus ist das Zauberwort, das die ganze Ästhetik der industriellen Musik kennzeichnet. Die gesamte Techno-Bewegung mit ihrer Liebe zu militärischem Outfit entstand aus diesem industriellen Untergrund und wurde erfolgreich weltweit vermarktet. Aus Throbbing Gristle entstand allerdings später die Gruppe Psychic TV, die wunderschöne folkige Lieder auf den beiden Platten "Force the Hand ov Chance" und "Dreams Less Sweet" herausbrachte.
Der Folklore-Musiker, der in seiner Tonkunst fast immer akustische Gitarren verwendet, sagt in seinem hellgrünen Liedgut ja zum Land, zur Waldheimat, zum Sonnenlicht, den eigenen Wurzeln, zur vorchristlichen Vergangenheit - auch das ist ein eigener Fetischismus. Vielleicht entsteht auch daraus eines Tages eine weltweite Bewegung und Vermarktung. Religiöses kommt in der industriellen Musik kaum vor, Heidnisches und Mythologisches spielen in der Folklore-Musik hingegen eine große Rolle. Beide haben etwas sehr Romantisches, Schwärmerisches. Schließen sich diese beiden Welten aus? Nein - weil seit der industriellen Revolution alle Menschen in diesen beiden Welten leben und weil auch die meisten Musiker im Neofolk-Bereich zeitgemäße Elektronik bei ihren Aufnahmen einsetzen, mitunter sogar mehr als manche industrielle Tonkünstler, die bewußt analog und archaisch arbeiten. Einigen wenigen Gruppen gelingt es, beide Welten in ihrer Musik zu vereinen - mir fallen im Augenblick vor allem Current 93 und In Gowan Ring ein. Current 93 ist in unserem Genre vielleicht die bekannteste Gruppe, sie hat sehr rituell und industriell begonnen, klingt aber heute sehr folkig. Trotzdem überrascht sie bei manchen Konzerten mit ungewöhnlich industriellen Kompositionen.
Allerseelen selbst ist da ein Grenzgänger. Für mich ist es immer wieder eine große Herausforderung, kraftvolle hämmernde Rhythmen mit melancholischen Geigen und Gitarren zu verknüpfen, Lautstarkes mit Zartbesaitetem zu verbinden, Stahlgewittriges mit Flamencoklängen und Tangostimmungen. Von Pier Paolo Pasolini, dessen archaische Filme "Edipo Re" und "Medea" ich sehr schätze, gibt es eine sehr schöne Aussage: "Ich habe alle Hoffnung in Bezug auf die neue Gesellschaft verloren. Ich verachte das moderne Leben, also flüchte ich mich in eine idealisierte Vergangenheit, ins Mittelalter." Das charakterisiert vielleicht ganz gut die neue Folklore. Noch mehr schätze ich diesen Satz von Pasolini: "Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muß, um wirklich konsequent zu sein." Beide Sätze könnten auch von Yukio Mishima stammen, der in den siebziger Jahren in einer Kaserne in Japan Seppuku beging, als es ihm nicht gelang, die Soldaten in einer feurigen Rede zur Rückkehr zu den alten Werten des kaiserlichen Japan - Bushido, Schintoismus, Tennoismus - zu bewegen. Beide, Pasolini und Mishima, waren abenteuerliche Herzen. Sie hatten manches gemeinsam: Beide inszenierten ihr Leben, und in gewisser Weise inszenierten beide auch ihren gewaltsamen Tod. Bei beiden war Politisches, Romantisches und Schwärmerisches in einem gordischen Knoten verknüpft.
EVOLVER: Setzt du bei deiner Kompositionstätigkeit moderne Elemente wie PC und entsprechende Software ein?
Gerhard: Nein, ich arbeite nach wie vor sehr archaisch und ganz ohne Computer. Die ersten beiden CDs "Cruor" und "Gotos=Kalanda" nahm ich auf einem 4-Spur-Rekorder auf, die weiteren CDs auf einem 8-Spur-ADAT-Rekorder. Seit einem Jahr arbeite ich mit einem 16-Spur-Harddisk-Rekorder. Dazu brauche ich keinen Computer. Es gibt in meiner Musik keine Programme. Meine Arbeitsweise hat sich seit den Anfängen kaum verändert: Ich baue meine Lieder auf Rhythmus- oder Melodie-Schleifen auf, dann setze ich jedes Sample, jedes zusätzliche Geräusch, jeden Klang händisch ein. Dadurch ist meine Musik nie perfekt. Sie hat immer etwas Handwerkliches.Wenn ich kleine Fehler darin finde, korrigiere ich die auch gar nicht. Ich will nicht, daß jeder Paukenschlag perfekt klingt. Industrielle Musik soll etwas von einer Manufaktur haben, also nach einfachen Maschinen und Handwerk klingen, nicht nach elektronischer, perfekter Gleichmäßigkeit. Ein Tischler muß ja auch die Maserung des Holzes in sein Werkstück einbringen, da kann nicht jedes Stück genau einem anderen gleichen. Gerade deshalb bewegt sich meine Musik wohl zwischen Folklore und Industrie. Meine Lieder sollen etwas Tagebuchartiges sein, Momentaufnahmen, die eine bestimmte Zeit in meinem Leben widerspiegeln. Ich bin glücklicherweise kein Perfektionist, sonst hätte ich wohl noch kein Lied wirklich beendet. Für mich ist Perfektion gleichbedeutend mit Stagnation und Tod.
EVOLVER: Hat Allerseelen auch schon mit anderen Gruppen zusammengearbeitet?
Gerhard: Nur auf der Bühne mit Schlagwerkern von anderen Gruppen, zum Beispiel von Ernte oder Hekate aus Deutschland, von Blood Axis und Waldteufel aus den USA oder von Cawatana aus Ungarn. Es gibt nur wenige Musiker, mit denen ich mir eine künstlerische Zusammenarbeit vorstellen kann. Dazu bin ich zu sehr der Auffassung, daß viele Köche den Brei verderben oder einander in die Suppe spucken würden. Ich habe in den letzten Jahren einige Lieder mit Sängerinnen aufgenommen, unter anderem mit Rosa Solé aus Katalonien und zwei Stücke mit Gaya Donadio aus Neapel/London.
Live arbeite ich seit zwei Jahren mit einem sehr guten Bassisten der österreichischen Gruppe Graumahd und zwei Schlagwerkern der ungarischen Gruppe Cawatana zusammen. Mit denen klingt Allerseelen auf der Bühne mittlerweile ganz anders als auf den Platten. Es ist ein starker Einfluß von Krautfolk, Krautpop und Krautrock drin; jeder Auftritt ist ein Husarenstück, bei dem wir germanische, romanische und slawische Elemente ineinandermischen. Wir sind in den letzten Jahren in etlichen Ländern aufgetreten, zum Beispiel in Belgien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Italien, Kalifornien, Litauen, Oregon, Portugal, Rußland und Ungarn. Diesen Herbst spielen wir noch in der Schweiz, Turin, Moskau und St. Petersburg. Manchmal treten wir in Deutschland auch unter verschiedenen Tarnnamen auf, das macht dann alles noch eine Spur abenteuerlicher und verschwörerischer. In Österreich spielen wir eigentlich sehr selten - vor einigen Jahren in Innsbruck, zweimal auch in einer der Gondeln im Wiener Riesenrad.
EVOLVER: Wohnzimmerproduktionen wie deine sind ja immer auch ein Hinweis darauf, daß der große kommerzielle Erfolg ausbleibt - ob absichtlich oder ungewollt. Woran liegt es, daß den meisten der heutigen Neofolk- und Industrial-Bands der "Durchbruch" verwehrt bleibt? Sind daran wirklich nur die angeblich so bösen und politisch unkorrekten Texte schuld?
Gerhard: Zum einen bleibt durch meine Art der Produktion alles überschaubar. Ich finde es sehr reizvoll, daß ich nicht von meiner Musik leben muß. Dadurch brauche ich keine Rücksicht zu nehmen – wenn ich eine CD oder Doppel-LP nur mit singenden Sägen oder Schuhplattlern herausbringen möchte, so gibt es keine Macht der Welt, die mich davon abhalten kann. Da Allerseelen normalerweise keine Touren machen, sondern nur einzelne Auftritte, verbinde ich Konzerte meist mit kürzeren oder längeren Aufenthalten in den Ländern, in die wir eingeladen werden. Vor allem aber bleibt mir Zeit für die Tonkunst in meiner Dunkelkammer. Manche Musikgruppen gehen daran zugrunde, daß ihnen vor lauter Auftritten, Interviews, Pressekonferenzen und Dutzenden anderen Verpflichtungen kaum mehr Zeit für die Musik bleibt.
Zum anderen bin ich mir gar nicht sicher, ob es in den Texten deutscher oder amerikanischer Neofolk-Gruppen tatsächlich soviel politisch Unkorrektes gibt. Am ehesten noch in Gruppen wie Blood Axis und Death in June. Gerade die Texte deutscher Neofolk-Bands sind ja sehr harmlos. Bei Allerseelen gibt es eigentlich wenige Reizwörter, Ideologisches und Politisches kommt in meiner Tonkunst sowieso nicht vor. Manches findet sich am ehesten noch in den Liebesliedern "Panzergarten" und "Blonder Wein" und im Lied "Feuersalamander", in dem Musik als Munition bezeichnet wird. Allerdings heißt eine Allerseelen-CD auch "Neuschwabenland" und handelt von der deutschen Kolonie Neu-Schwabenland in der Antarktis, die erst 1947 von den USA erobert wurde ...
EVOLVER: Du machst ja nicht nur Musik, sondern veröffentlichst - wie viele Leute aus der Szene - auch Texte zu den unterschiedlichsten Themen. Wann und warum hast du die "Aorta"-Hefte zu schreiben begonnen?
Gerhard: Ich las als Kind viele Märchen und Sagen und wollte in meiner Jugend eigentlich Dichter werden. Die Bücher von Jack Kerouac über seine Reisen als "lonesome traveller" und von William S. Burroughs über seine Drogenerfahrungen und Werke andere Dichter aus dem amerikanischen Untergrund haben mich recht beeindruckt. In Wien ließ ich mir die Schwarze Sonne, die auf der Coil-Schallplatte "Scatology" abgebildet ist, tätowieren. Mein erstes Traktat in der Zeitschrift "Aorta" handelte von dieser Tätowierung und dem Sinnbild der Schwarzen Sonne in der Alchimie. Damit diesen Text auch Freunde in anderen Ländern lesen konnten, brachte ich die Zeitschrift zweisprachig - deutsch und englisch - heraus.
Eine der nächsten Ausgaben handelte von den Karfreitagstrommeln in Calanda in der spanischen Provinz Aragon. Ich kannte die Schallplatte von Vagina Dentata Organ aus Katalonien und hatte in einigen Psychic-TV-Interviews von diesem Brauchtum gelesen. Meine Neugier war geweckt, ich wollte mehr darüber erfahren und machte mich auf den Weg nach Calanda. Ganz ähnlich und auch anstrengend waren meine Annäherungen, als ich über die Katharerburg Montsegur in Südfrankreich schrieb oder über das achteckige Castel del Monte in Apulien oder über eine Schlangenfeier in den Abruzzen: Ich machte mich auf den Weg, schrieb mein Tagebuch und arbeitete nach meiner Rückkehr daran, übersetzte es ins Englische und brachte alles sehr spontan und schnell als "Aorta"-Ausgabe heraus.
Noch heute bin ich viel alleine in den Bergen unterwegs. Viele meiner Schriften haben eine starke persönliche Note. Daß ich auch über Dichter und Forscher geschrieben habe, die wie Otto Rahn und Karl Maria Wiligut im Ahnenerbe der SS arbeiteten und von einem dieser Dichter - Karl Maria Wiligut - auch Liebesgedichte vertont habe, hat mir in den letzten Jahren einige kleinere Schwierigkeiten bereitet und vielleicht auch ein bißchen den "Durchbruch" von Allerseelen verhindert. Vielleicht sollte ich dafür dankbar sein, daß Allerseelen nicht so erfolgreich geworden ist wie die Einstürzenden Neubauten, Laibach oder die Nine Inch Nails.
EVOLVER: Und warum erscheinen deine Schriften jetzt unter einem anderen Titel?
Gerhard: Mittlerweile erscheinen meine Schriften gar nicht mehr. Ich habe meine beiden Schriftenreihen vor einigen Jahren eingestellt, um mich auf meine Tonkunst zu konzentrieren. Nach zwanzig "Aorta"-Ausgaben erschienen neun Ausgaben von "Ahnstern" – ein Wort, auf das ich in einem Runenbuch stieß. Das Wort hat mich sofort elektrisiert mit seiner Verbindung von Ahnung und Stern. Mittlerweile heißt ja auch das Label bei Salzburg so, das meine Schallplatten herausbringt. Eine der "Ahnstern"-Ausgaben enthielt auch ein ausführliches Interview mit Kenneth Anger, den ich traf, als er in Wien seine Filme vorstellte. In den "Aorta"- und "Ahnstern"-Heften war der handwerkliche Charakter ebenso stark wie bei den Kassetten, die ich früher herausbrachte: Ich tippte alles auf der Schreibmaschine, klebte Texte und Bilder auf A3-Seiten, brachte alles in ein Kopiergeschäft. Oft ließ ich die Ausgaben nicht im Kopiergeschäft sortieren und heften, sondern sortierte sie händisch in meiner Dunkelkammer, klammerte sie mit Nagel und Hammer zusammen - archaischer geht´s nimmer. Gerade das aber machte auch den Reiz meiner Hefte aus. Die höchste Auflage hatte das Heft "Oskorei" über norwegisches Brauchtum und Black Metal, das auch ein langes Interview mit Varg Vikernes, dem Gründer der Gruppe Burzum, enthielt.
EVOLVER: Wird es deine Texte auch einmal gesammelt in Buchform geben?
Gerhard: Nächsten Frühsommer wird der Musikverlag Ajna in Oregon alle meine Traktate in einem zweisprachigen Buch herausgeben, das voraussichtlich "Spurensuche" heißen wird. Wir werden eine kleine Tour an der Pacific West Coast machen, mit Auftritten in Seattle, Portland, San Francisco, vielleicht auch weiteren Städten - wie schon vor zwei Jahren. Das Buch wird auch eine CD mit unveröffentlichten Allerseelen-Liedern und viele Fotos enthalten, die ich auf meinen Reisen gemacht habe. Im Anhang werden auch die Interviews sein, die ich mit Kenneth Anger, mit Michael Moynihan von Blood Axis, mit Varg Vikernes und dem amerikanischen Kabbalisten und Schlagwerker Z´EV gemacht habe - es wird also einigen Staub aufwirbeln, auf der einen Seite Allerseelen und meine Arbeit noch bekannter machen, auf der anderen Seite erneut einen möglichen "Durchbruch" vereiteln.
EVOLVER: Allerseelen wird auch mit einem ganzen Kapitel in "Looking for Europe", einem Sachbuch über Neofolk und Industrial, vertreten sein. Findest du, daß die Autoren die Szene fair behandelt haben?
Gerhard: Ich freue mich schon auf diese Veröffentlichung - das Buch, das noch im Oktober erscheinen wird, wird sicher ein Meilenstein sein wie "Lords of Chaos", das Buch über Black Metal von Michael Moynihan und Didrik Söderlind. Zum ersten Mal erscheint ein Buch, in dem Leute über diesen Musikbereich schreiben, die tatsächlich eine Ahnung von der Materie haben. Ich kenne bisher nur "mein" eigenes Kapitel und das gleichermaßen faire wie kritische Interview, das die Autoren mit mir gemacht haben. Sie wußten jedenfalls über manche Einzelheiten aus der heimlichen Welt von Allerseelen besser Bescheid als ich.
EVOLVER: Du entwirfst auch deine CD-Covers und -Booklets selbst. Kannst du ein paar Worte zum Cover-Motiv der Doppel-LP "Sturmlieder", einem deiner aktuelleren Werke, sagen?
Gerhard: Bei den CDs und 7"es und auch den meisten Allerseelen T-Shirts arbeite ich fast immer mit einem guten Freund namens Salt zusammen, der das deutsche Label Ant-Zen leitet. Er ist ein hervorragender Graphiker, dem ich gern meine Fotos und Ideen anvertraue - gemeinsam entsteht dann meist etwas Großartiges. Die äußere Gestaltung meiner CDs und 7"es liegt mir sehr am Herzen, hier soll alles makellos sein. Vielleicht bin ich da perfektionistischer als in der Musik. Alle Allerseelen-CDs enthalten stets ein ausführliches Beiheft mit sämtlichen Texten in deutscher und englischer Sprache und viele Fotos. Ich selbst schätze es auch immer, wenn ich Musik höre und gleichzeitig in einem Beiheft blättern kann. Die CDs und 7" erscheinen fast immer in meinem eigenen Musikverlag Aorta. Bei den Doppel-LPs, die seit zwei Jahren auf Ahnstern erscheinen, habe ich das Glück, mit einem anderen großartigen Graphiker zusammenarbeiten zu können, Max Presch von Ahnstern/Steinklang. Wir haben eine Holzschatulle herausgebracht, die nach und nach mit zehn Allerseelen-Doppel-LPs und einer Bonus-LP gefüllt wird. Vier dieser Doppel-LPs sind bereits erschienen, die fünfte - "Gotos=Kalanda" - erscheint Ende Oktober.
Das "Sturmlieder"-Cover ist eine Collage von Bildern eines nordamerikanischen Sees und einer hölzernen Odinsfigur aus Norddeutschland. Die Odinsfigur im Runenkreis befand sich einst an der Fassade des "Haus Atlantis" in Bremen, wurde aber zerstört, als die Stadt im Zweiten Weltkrieg von englischen Flugzeugen bombardiert wurde. Es war eine ganz merkwürdige expressionistische Skulptur, kein Krieger und kein Hohepriester, sondern mehr ein wurzelhaftes Wesen, eine Spukgestalt, die mich sehr an den eigentümlichen Schauspieler Max Schreck in Murnaus "Nosferatu" erinnert. Für christliche und heidnische Nationalsozialisten gleichermaßen war diese Figur ein Greuel, sie betrachteten sie im Dritten Reich als Entartete Kunst.
Die heutige Fassade des "Haus Atlantis" in der Böttcherstraße sieht allerdings ganz anders aus, sie wirkt sehr steril und langweilig. Ende Jänner wollten wir in dem Haus spielen, das jetzt zur Hilton-Hotelkette gehört. Eine Zeitung rührte aber in einem Artikel über die gefährliche Formation Allerseelen die Werbetrommel für oder gegen uns, eine im Grunde unbezahlbare Werbung, die uns wieder einen Schritt näher in Richtung "Durchbruch" rückte - und das Haus Atlantis kündigte den Vertrag mit Allerseelen, da man den Eindruck hatte, unsere Entartete Musik könne dem Ruf des Hotels schaden. Da gleichzeitig auch Karneval in Bremen war, war an diesem Wochenende die Stadt voll von kostümierten Trommlern. Die einzigen, die in der Stadt nicht trommeln durften, weil es uns nicht gelang, einen anderen Auftrittsort zu organisieren, waren meine Trommler ...
Heidelinde Moser
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