Stories_Deadwood

Helden aus der Ursuppe

Der "Wilde Westen" dieser preisgekrönten HBO-Serie hätte John Wayne wohl die Schamesröte ins Gesicht getrieben. Dietmar Wohlfart berichtet.    20.07.2005

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheint der Gedanke an eine kommerziell fruchtbare Western-TV-Produktion im Serienformat auf den ersten Blick abwegig. Der heutige Massengeschmack ist ein anderer, die jugendliche Hauptzielgruppe verliert sich zusehends in einem konformistischen Einheitsbrei aus Casting-Shows und Teenie-Seifenopern , und auch die Elterngeneration wuchs in einer Zeit auf, als der Western nur noch eine untergeordnete Rolle spielte. Dennoch beweist HBO dieser Tage Mut zur Wiederbelebung eines fast in Vergessenheit geratenen - und in jüngerer Vergangenheit nur durch sporadisch aufblitzende hochwertige Nachzügler am Leben erhaltenen - Zweigs der Kino- und TV-Industrie: Die Serie "Deadwood" demonstriert eindrucksvoll, daß nach wie vor erfolgreich aus dem Fundus der amerikanischen Unterhaltungsgeschichte geschöpft werden kann. Die erste Staffel des bereits mehrfach ausgezeichneten US-Quotenschlagers legt den Grundstein für die eventuell sogar langfristige Rückkehr einer altbewährten Erfolgsformel in die Wohnzimmer der Welt.

Entwickelt wurde das Rezept zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als das mit Abstand älteste Genre der Kinogeschichte in den letzten Tagen des realen "Wilden Westens" geboren wurde. Unveränderlich und gattungsdefinierend sind bis heute die uramerikanischen Themenkomplexe geblieben, die den erzählerischen Nährboden so ziemlich jedes Klassenvertreters bilden: Einverleibung der Neuen Welt samt Befriedung und "Zivilisierung" seiner Eingeborenen, Glorifizierung der Gründerväter, Unabhängigkeitskampf gegen die Kolonialherren, Goldrausch, Sezessionskrieg, Zusammenprall mit dem industriellen Fortschritt. Der Western durchlief zahlreiche Evolutionsphasen, wuchs aus den Ursprüngen der ersten bewegten Bildsequenzen empor, überschwemmte die Filmtheater in den 20er und 30er Jahren mit einer Unzahl oberflächlicher Billigproduktionen und erfuhr durch einen der großen Pioniere des Tonfilms - John Ford, der seine ersten Meriten bereits in der Stummfilmära erntete - eine qualitative Aufwertung. Die A-List-Regisseure Raoul Walsh, Robert Wise, Fred Zinneman, Howard Hawks, Edward Dmytryk, Anthony Mann und William Wyler schufen später kraftvolle Werke, die frische Akzente setzten, indem sie unter anderem Einflüsse anderer Sujets wie etwa des Film noir in ihre Produktionen integrierten. "My Darling Clementine" (1946), "Red River" (1948), "High Noon" (1952), "The Big Country" (1958) oder "Warlock" (1959) nahmen ihren Platz als Marksteine des Genres in der Filmhistorie ein. Zudem brachten die Klassiker der 30er und 40er Jahre Hollywood-Ikonen vom Range eines John Wayne, Gary Cooper oder Henry Fonda hervor.

Mitte des 20. Jahrhunderts etablierten sich die ersten langlebigen TV-Serien: "The Cisco Kid", "The Lone Ranger" sowie in späteren Jahren "Gunsmoke", "Bonanza" und "Rawhide" (mit Clint Eastwood in der Hauptrolle) stießen auf reges Publikumsinteresse. Bevölkerten die Westernshows in den 50er und 60er Jahren die Sendeplätze noch in kaum überblickbarer Zahl, so verkamen ihre Enkel, die in den letzten 20 Jahren meist kurze, ruhmlose Einstände gaben, zu kuriosen Randerscheinungen in einer radikal gewandelten Fernsehlandschaft. Mit "Deadwood" betritt nun eine neue Hoffnung die TV-Bühne.

 

Überlebenskampf vor historischer Kulisse

 

Von urtümlichem Roots-Sound begleitet, stimmt der stilvoll montierte Vorspann, der einen hübschen Bogen durch die Mythenwelt des alten Westens spannt, auf eine Zeitreise ins Jahr 1876 ein. Die titelgebende historische Goldgräberstadt ist Dreh- und Angelpunkt des Geschehens: Zwei Jahre, nachdem ein militärisches Expeditionskorps unter dem Kommando General Custers in den Black Hills auf Gold stieß, und wenige Wochen nach dem Tod des berühmten Befehlshabers in der legendären Schlacht um Little Big Horn verschlägt es den ehemaligen Gesetzeshüter Seth Bullock (Timothy Olyphant) und seinen Kumpanen Sol Star (John Hawkes) in das unwirtliche Nest. In diesem ebenso gold- wie bleihaltigen Schmelztiegel der US-Geschichte treiben sich einige der berüchtigsten Vertreter des amerikanischen Scharfschützentums herum, darunter der gefürchtete "Wild Bill" Hickok (Keith Carradine). Mit ihm schließt der geradlinige Bullock Freundschaft. Prinzipientreue und Standhaftigkeit verbinden den Ex-Marshal mit dem prominenten Revolverhelden - und wecken die Aufmerksamkeit der mächtigsten Instanz Deadwoods: Al Swearengen (Ian McShane), der durchtriebene Hausherr des "Gem Saloon", herrscht nicht nur über seinen populären Sündentempel, sondern manipuliert sämtliche Ereignisse in der Ortschaft mit List und Brachialgewalt zu seinen Gunsten. Der Brite bezieht seine Stärke aus dem kontrollierten Chaos Deadwoods, dessen Rahmenbedingungen er nach Belieben variiert. In Bullocks Aufrichtigkeit und seinem vermeintlichem Bündnis mit Hickok erkennt Swearengen ein schwer einzuschätzendes Gefahrenpotential.

 

Aus Fleisch und Blut

 

Die wichtigsten Protagonisten Deadwoods präsentieren sich als symbiotische Personalunion durch und durch glaubwürdiger Charaktere. Die Rollenverteilung wirkt nur auf den ersten Blick apodiktisch. Schnell gewinnen graue Schattierungen die Oberhand, und es entsteht Raum für feingliedrige Verästelungen der Storyline. Die Figur des brutalen Dorffürsten Al Swearengen beispielsweise wächst schon früh über die engen Grenzen eines eindimensionalen Despoten hinaus; gelegentlich wird der Mann von den Dämonen seiner Vergangenheit eingeholt. Dieser Umstand entnervt den vielbeschäftigten Machtmenschen besonders, da er sich ohnehin bereits mit den suspekten Neuankömmlingen Bullock und Hickok herumschlagen muß, dem rasant Konkurrenzstatus erreichenden, undurchschaubaren Saloon-Besitzer Cy Tolliver (Powers Boothe) die Stirn bieten sollte und nebenbei die Kontrolle über seine eigene Spelunke aufrecht erhalten will. Swearengen fasziniert: Der zu massiven Gewaltausbrüchen neigende Drahtzieher, dessen zügelloses Schandmaul die Umgebung permanent mit derben Unflätigkeiten eindeckt, ist ein charismatischer Schweinehund erster Güte. Sein Humor ist bösartig-brachial, paranoide Wachsamkeit und null Toleranz gegenüber Verfehlungen der eigenen zwielichtigen Helferschar zählen zu Als hervorstechenden Persönlichkeitsmerkmalen. Auf Gedeih und Verderb mit Swearengen verbunden ist eine illustre Gruppierung zweit- und drittklassiger Halunken wie etwa der schmierige Hotelbesitzer E. B. Farnum (William Sanderson), der unterwürfig im Schatten seines Herrn konspiriert. Auch die Prostituierte Trixie (Paula Malcomson) steht in einem innigen Abhängigkeitsverhältnis zu ihm, das weit über die berufliche Pflichterfüllung hinausgeht. Jene Figuren sind hin- und hergerissen zwischen Swearengens aufgenötigter Loyalität und dem Streben nach Unabhängigkeit.

Das Potential der in Staffel eins etablierten Charaktere ist erfreulich hoch, und dem engen sowie dem erweiterten Kreis der Kernfiguren wird genügend Platz für Entfaltungsmöglichkeiten zugestanden: Seth Bullock und Sol Star versuchen ihr Glück in Deadwood als ehrliche Eisenwarenhändler. Dabei kommt der zähe, aber faire Bullock nicht umhin, sich ab und an als Streiter für Recht und Ordnung, als Held wider Willen hervorzutun. Der bescheidene Charlie Utter (Dayton Callie) ist die treue Seele an Bill Hickoks Seite, Mannweib und Schnapsdrossel "Calamity Jane" (Robin Weigert) Wild Bills größte Verehrerin. Der bemerkenswert integre Doc Cochran (Brad Dourif) trotzt allen Widrigkeiten, fühlt sich seinem hippokratischen Eid aufrichtig verpflichtet und versieht mutig seinen Dienst. Die religiöse Inbrunst des eifrigen Predigers H. W. Smith (Ray McKinnon) hat zwar kaum die Kraft, mehr als ein Strohfeuer des Glaubens in dem Sündenpfuhl aus Gier und Korruption zu entfachen, doch sein unermüdlicher Einsatz nötigt Respekt ab. Jeder einzelne der Schauspieler glänzt in seiner Rolle - darstellerische Highlights stellen sich regelmäßig ein.

 

Realismus und Komplexität

 

"Deadwood" ist eine kompakte Verbindung aus Elementen des amerikanischen Unterhaltungsurgesteins. In der Zeit nach dem Bürgerkrieg wird das im Entstehen begriffene Wüstenkaff zum zivilen Kriegsschauplatz glaubhaft aufgebauter Figuren. Diese begegnen sich auf engstem Raum und von einem unbändigen Überlebensinstinkt angetrieben. Ein Hauch von Legende umfängt diese Pioniere, verankert sie gleichzeitig aber auch felsenfest in ihrer Zeit.

Schöpfer der Serie ist David Milch, geistiger Vater der immens erfolgreichen Cop-Drama-Serie "NYPD Blue". Elf Jahre nach "Blue" transportiert Milch Teile des ehemaligen Erfolgsrezepts in Form des bewährt rauhen Alltagsrealismus aus dem hektisch-modernen New York in das historische Deadwood South Dakotas. Milch, schreibender und produzierender Emmy-Preisträger, konzentriert sich wiederum auf nachvollziehbare, überzeugende Figurenzeichnungen. Zusammen mit seinem Stab von Autoren und Regisseuren - unter ihnen Veteran Walter Hill - verzichtet er auf klischeehafte Schablonen, reduziert den Action-Faktor aufs Notwendigste und webt ein dichtes Netz moralischer und gewaltsam erzwungener Abhängigkeiten.

Nebenher wird ein quasi totes Genre mit neuer Energie zum Leben erweckt: Der Western erlebte die letzten großen Momente seines natürlichen Lebenszyklus in den 70 Jahren, als hochwertige Spätwerke wie Eastwoods "Der Texaner", Siegels "The Shootist" oder Peckinpahs "Pat Garrett jagt Billy The Kid" eine sieben Jahrzehnte zuvor eingeleitete Ära stilgerecht abrundeten. In den 80ern war schließlich kein Platz mehr gewesen für die archetypischen Geschichten über aufrechte Ordnungshüter, rebellische Outlaws und verkommene Sheriff-Killer. Immerhin wurden einige der alten Ideen in die populären SF- und Fantasy-Werke des ausgehenden Jahrhunderts integriert. Erst im letzten Jahrzehnt verhalfen Altmeister Clint Eastwood ("Erbarmungslos") und Kassenmagnet Kevin Costner ("Der mit dem Wolf tanzt") dem Genre kurzfristig zu neuem Glanz.

Doch "Deadwood" ist weder ein melancholischer Abgesang auf die treffsicheren Legenden von anno dazumal noch ein moralisches Lehrstück. Mit den romantischen Wildwestphantasien eines John Ford hat die Serie rein gar nichts zu tun. Bluttriefende Todesballette bleiben Peckinpah vorbehalten, kauzige Exzentriker und wehrhafte Männerfreundschaften gehören nach wie vor in Howard Hawks Welt. Im filmgeschichtlichen Kontext betrachtet steht "Deadwood" den Werken eines Anthony Mann wahrscheinlich am nächsten. Mann war ein Meister des psychologischen Westerns, in dem Opportunismus und Machtgier die Triebfeder des menschlichen Tuns bildeten.

Den treuen Anhängern der einzigen beiden artverwandten Fernsehserien der 90er Jahre, die sich über mehrere Jahre hinweg am Leben erhalten konnten - der seichten Gutmenschen-Westernoper "Dr. Quinn, Medicine Woman" (1993-1998) und dem mit viel kindgerechter Martial-Arts-Action aufbereiteten "Walker, Texas Ranger" (1993-2001) - dürfte ein Schock bevorstehen. "Deadwood" bedient sich nicht nur einer äußerst rüden Gossensprache, sondern fährt den Brutalitätsfaktor auf ein für die genannten Shows undenkbares Level. Eingebettet in eine geradlinige, fokussierte Inszenierung und kompetent transportiert durch die spielfreudige Darstellerriege, bewegt sich die Serie aber vor allem auf einem konstant hohem Niveau und versorgt ein schwer angeschlagenes Uraltgenre mit frischen Impulsen. 

Dietmar Wohlfart

Kommentare_

Markus Leshem - 19.10.2009 : 13.33
Für mich persönlich eine der besten Serien überhaupt. Wenn auch die Handlung nur scheinecht ist (vieles wurde dazugedichtet), so überzeugt das Ambiente und die Atmosphäre ist erstaunlich dicht konstruiert. Deadwood ist der wilde Westen, wie er gewesen sein könnte.

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