Stories_Berlinale 2005/Journal III

Leckerbissen aus Fernost

Der Wettbewerb ist vorbei, die Bären sind vergeben. Zeit, noch einmal die letzten Tage der Berlinale zu
rekapitulieren.    21.02.2005

Erfreulicherweise gab es in der Endspurtsphase doch noch mehrere sehr interessante Beiträge zu sehen - von denen einige auch Preise einheimsen konnten.

Den skurrilsten Moment der diesjährigen Berlinale gab es bei der Pressevorführung des chinesischen Film "Kong Que" ("Der Pfau"). Gegen Anfang sehen wir hier eine Familie, die ganz harmlos beieinandersitzt und eine Melone ißt. Plötzlich gackert ein Teil der Zuschauer hysterisch los vor Lachen. Was ist hier los? Die Szene ist keineswegs lustig - aber die Erheiterung hat mit "Kong Que" selbst auch gar nichts zu tun. Die Gackerer sind vielmehr diejenigen Vertreter der internationalen Presse, die sich zwei Tage zuvor "Tian Bian Yi Duo Yun" ("The Wayward Cloud") angeschaut haben. Da geht es nämlich sehr prominent um Melonen. Und zwar in einer Weise, die den berüchtigten Apfelkuchen aus "American Pie" ganz alt aussehen lässt. Hier wird gestochert und geleckt, zerbissen und ausgehöhlt, daß die Fetzen fliegen. Und das wirkt bei aller Komik auch noch hocherotisch. So etwas glaubhaft auf die Leinwand zu bringen, muß man erstmal schaffen.

Dem taiwanesischen Regisseur Tsai Ming Liang ist das mit Bravour gelungen - das und noch viel mehr. Sein Film ist das einzige wirkliche Meisterwerk des diesjährigen Wettbewerbs. Einen Goldenen Bären war dies der Jury leider nicht wert (den erhielt die afrikanische Carmen-Version "U-Carmen eKhayelitsha" – siehe Berlinale-Tagebuch, Teil 2), aber immerhin konnte Tsai noch einen Silbernen Bären für sein Drehbuch ergattern. Erzählt wird die Liebesgeschichte zwischen Shiang-Chyi (Chen Shiang-Chyi) und Hsiao-Kang (Lee Kang-Shang). Die beiden leben im selben anonymen Apartmenthaus und befinden sich in einem Zustand seltsamer Starre. Vorsichtig nähern sie sich aneinander an, doch weiß sie nicht, daß er als Pornodarsteller arbeitet. Unwillkürlich wird sie dennoch mehr und mehr in seine Welt hineingezogen. Das Ganze gipfelt dann in einer gleichzeitig so absurden und intensiven Sexszene, bei der es einem den Atem verschlägt.

Es geht um Liebe in diesem Film und um Pornos, um den Mangel an Kommunikation und den Mangel an Wasser im Hochsommer. Die beiden Protagonisten sprechen nicht miteinander, aber in urplötzlich eingestreuten quietschbunten Musicaleinlagen tun sie singend ihre Gefühle kund. Sie leben unauffällig vor sich hin, doch während sie einträchtig gemeinsam Krabben verzehren, ähneln ihre Schatten kannibalistischen Ungeheuern. Sie wollen sich nahe sein, bleiben aber auch im intimsten Moment durch ein Fenstergitter getrennt. Die Schizophrenie des Lebens - damit befaßt sich letztlich dieser Film. Und er ist offen und abstrakt genug gehalten, um jedem einzelnen Zuschauer die Gelegenheit zu geben, selbst noch einmal sein Verhältnis zum Leben, zu Liebe und Sexualität und zum Wert des eigenen Körpers zu überdenken - oder es eben sein zu lassen. Dann kann man sich immer noch an den Melonen erfreuen.

 

Damit nochmals zurück zu "Kong Que", der verdientermaßen den Großen Preis der Jury gewonnen hat. Die Familie, die hier scheinbar so harmonisch beieinandersitzt, ist in Wirklichkeit von akutem Zerfall bedroht. Die Eltern verstehen ihre halbwüchsigen Kinder nicht mehr und versuchen mit Strenge die Ordnung aufrechtzuerhalten. Dadurch fühlen sich diese umso ungeliebter und streben mit allen Mitteln nach Unabhängigkeit. Die Geschichte spielt in einer kleinen chinesischen Stadt in den 70er und 80er Jahren, hat aber mit Nostalgie nichts zu tun. Vielmehr werden die Restriktionen seitens der Gesellschaft und insbesondere der älteren Generation überdeutlich.

Sehr erfreulich ist dabei die differenzierte Darstellung der Charaktere: Die Geschichte wird aus der Pespektive der Kinder erzählt, deren Verhalten durchaus zwiespältig ist. Die Tochter hat eindeutig die stärkste Persönlichkeit, geht aber mit ihrem unbeugsamen Bestreben, ihrem unbefriedigenden Leben zu entkommen, buchstäblich über Leichen. Ihre Brüder sind ungleich schwächer, erweisen sich immer wieder als opportunistisch und feige. Und doch stellt Gu Changwei in seinem Regiedebüt auch die liebenswerten Züge seiner jungen Antihelden heraus und schildert ihre Rebellionsversuche mit großer Sympathie. Diese komplexe Darstellung macht den Film auch abseits von Interesse am Leben in Fernost in den 70ern sehenswert.

 

Um Konflikte zwischen Eltern und Kindern geht es auch in diversen anderen Wettbewerbsbeiträgen. In "Les Mots Bleus" ("Worte in Blau") erstickt eine neurotische Mutter (Sylvie Testud) ihre kleine Tochter mit Fürsorge und kann von einem engagierten Taubstummenlehrer nur nach langen, viel zu langen Kämpfen auf den richtigen Weg gebracht werden. In Wes Andersons prätentiöser Posse "The Life Aquatic with Steve Zissou" ("Die Tiefseetaucher") wird Bill Murray plötzlich mit der Existenz seines erwachsenen Sohnes Owen Wilson konfroniert, den er dann flugs für seine eigenen Zwecke einspannt. Und in "De battre mon coeur s’est arrêté" ("Der Schlag, der mein Herz verspielte"), der französischen Adaption von James Tobacks Film "Fingers", muß sich ein Sohn (Romain Duris, der hier sehr an den jungen De Niro erinnert) entscheiden, ob er weiter für seinen Vater halbkriminelle Immobiliengeschäfte tätigen oder lieber eine Pianistenkarriere einschlagen will.

Sehr düster und dramatisch wird es dann im dänischen Beitrag "Anklaget" ("Accused"). Hier beschuldigt ein 14-jähriges Mädchen ihren Vater, sie sexuell mißbraucht zu haben. Der Vater (großartig: Troels Lyby) kommt vor Gericht, aber auch nach der Freisprechung ist nichts mehr wie es war. Der Film widmet sich sehr eindringlich dem allmählichen Zerfall des Lebens des Protagonisten - die mißtrauischen Blicke der Kollegen und Freunde, die Konflikte mit der Ehefrau, die Schmierereien am Auto zermürben ihn langsam, aber sicher. Durch die Anklage ist sein Leben zerstört, egal ob er schuldig ist oder nicht. Das ist das eigentliche Thema des Films und wird auch meisterhaft herausgearbeitet. Viel seiner Kraft verliert "Anklaget" leider durch das Finale, in dem die Frage seiner Schuld oder Nichtschuld unwiderlegbar geklärt wird. Diese Frage offenzulassen, hätte dem Film als Einheit besser entsprochen.

 

Um eine Anklage ganz anderer Art geht es in Alexander Sokurovs Film "Solnze" ("Die Sonne"), einem Porträt des japanischen Kaisers Hirohito im Sommer 1945, kurz nach Kriegsende. Nach mehreren Gesprächen mit dem Oberbefehlshaber der amerikanischen Besatzungsarmee, General McArthur, erklärt sich der Tenno bereit, offiziell seinen göttlichen Status aufzugeben. Und so wie Sokurov den Kaiser darstellt, freut sich dieser sogar wie ein Kind über diese Gelegenheit, endlich "frei zu sein", wie er gegenüber seiner Ehefrau äußert. Überhaupt wirkt der Machthaber oftmals wie ein kleines Kind, zum Beispiel wenn er begeistert vor amerikanischen Photographen posiert. Diese können ihn daher auch als Kaiser kaum ernstnehmen, assoziieren ihn eher mit Charlie Chaplin. Nicht zu Unrecht, erinnern einige Szenen des Films doch stark an den Slapstick der Stummfilmzeit - so zum Beispiel wenn der Tenno zum ersten Mal in seinem Leben eine Tür selbst öffnen muß oder wenn es um ein großes Gezerre über die korrekte Sitzordnung zwischen dem Kaiser und einem Besucher geht. Die Assoziation wird umso stärker, da den Bildern fast jede Farbe entzogen ist, sich das Farbspektrum auf verschiedene dunkle Brauntöne sowie grau und weiß beschränkt.

Künstlerisch ist "Solnze" auf jeden Fall sehenswert, zumal hier aus kleinsten Details, wie zum Beispiel dem Zuknöpfen einer Jacke, eine unglaubliche Atmosphäre erzeugt wird. Trotzdem bleibt ein ungutes Gefühl bei der Darstellung des Kriegskaisers als kindlichem, harmlosem, und dabei doch sehr würdevollem Menschen. Er sei Hirohito sehr dankbar, daß er damals beschlossen habe, die japanische Armee nicht in die Sowjetunion einzumarschieren zu lassen, dies wolle er würdigen, kommentiert Sokurov seine Motivation zu dem Film, der in einer Reihe von Portraits über Machtmenschen steht (Sokurovs vorherigen Beiträge der Serie handelten von Hitler und Lenin). Hier drängt sich die Überlegung auf, was wohl beispielsweise ein koreanischer oder chinesischer Regisseur aus dem Stoff gemacht hätte.

 

Ebenso fragwürdig sind allerdings auch die politisch völlig korrekten Wettbewerbsbeiträge "Fateless" und "Sometimes in April". "Fateless" schildert den Leidensweg eines ungarischen Kindes im KZ, "Sometimes in April" behandelt den Völkermord in Ruanda im Jahr 1994. Beide Filme versuchen, das Grauen auf der Leinwand sichtbar zu machen, doch scheitern sie an dieser unmöglichen Aufgabe. Ob in Sepiatönen und mit Ennio Morricone-Untermalung ("Fateless") oder in sehr blutigen, aber perfekt komponierten und ausgeleuchteten Szenen von Massenerschießungen ("Sometimes in April") - die Thematik des Mordes an Millionen von Menschen bekommt man nicht in den Griff. Hier sei zum Vergleich nochmals auf den sehr gelungenen Beitrag "Hotel Rwanda" hingewiesen (siehe Berlinale-Tagebuch, Teil 1), der es schafft, mit reinen Andeutungen der Gewalt viel größere Erschütterung beim Zuschauer hervorzurufen.

Anne Herskind

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